: Das Nichtvergehenwollen von Zeit im Herbst 1989
Hörbuch Ingo Schulze zeigt renitenten Witz beim Nachdenken, und Stefanie Sargnagel tritt in einer Revue österreichischer Schriftsteller und Musiker auf
„Dein ganzes Leben geht für die Sterblichkeit drauf.“ In diesem Satz kulminiert ein Gespräch, das in Ingo Schulzes Erzählung „Zellbiologie“ geführt wird. Das Konstrukt Zeit, ihre Wahrnehmung, das sich Verlieren in ihr, ihre Verschwendung und das genussvolle Nutzen von Zeit – alles Variationen eines Themas, das Herrmann Kretzschmar vom Ensemble Modern dem Schriftsteller Ingo Schulze vorgab, als er ihn bat, Texte für ein, ja, sagen wir Hörspiel zusammenzustellen.
Schulzes eingehende Beschäftigung mit den ost- und westdeutschen Befindlichkeiten nach der Wende ist auch in den ausgewählten Texten auf „Die Abflussrohre spuckten ihre Eisblöcke wie abgelutschte Bonbons auf den Gehsteig“ präsent, wenn das Nichtvergehenwollen von Zeit im Herbst 1989 beim Warten auf neueste Nachrichten thematisiert wird. Schulze gibt an, dass für ihn das Thema Zeit als Vorgabe aber weniger Vorgabe als Anlass zum Nachdenken bedeutet hätte. So wählte er nicht nur passenden Passagen aus bereits erschienenen Prosawerken wie „Handy“ und „Neue Leben“ aus. Er hat mit „Variationen über die Zeit“ auch neue Texte verfasst, in denen er zumeist mit renitenter Komik von Kindern berichtet, die den angeordneten Mittagsschlaf als Zeitverschwendung empfinden, von Zeitsoldaten, denen erst nachdem sie sich für drei Jahre verpflichtet haben, klar wird, was drei Jahre bedeuten.
Die drei Sprecher*innen Judith Engel, Sylvester Groth und Thomas Thieme wechseln sich im Vortrag ab und bringen mit ihren charakteristischen, sich organisch ineinanderfügenden Stimmen das „farbige Wechselspiel von Musik und Text“ zum leuchten. Der Musik ist in dieser Produktion auch nicht die Rolle der Begleitung zugedacht, mit der das Gehörte kommentiert werden soll. Sie ist den Texten gleichwertig gegenübergestellt – was allein schon daran erkennbar ist, dass die Stücke länger sind als sonst bei Hörspielen üblich.
Während die Kompositionen von Herrmann Kretzschmar und Hans Werner Henze beim Auftakt „Alle Wege“ aus „33 Augenblicke des Glücks“ noch der Hör-Eingewöhnung bedürfen, sind „Drei kleine Stücke“ von Anton Webern in „Zellbiologie“ (aus „Adam und Evelyn“) bereits integriert. Bei „Signor Candy Man“ aus dem Erzählungsband „Orangen und Engel“ gehen John Cages „Music for Carillon“ und Kretzschmars „Vc-Fg-Modul“ vollends im Text auf. Und auch die Kompositionen von Howard Skempton, Tom Johnson , Erwin Schulhoff oder Cornelius Cardew stehen den zeitlosen Texten Schulzes nicht nur gleichberechtigt gegenüber – das fein orchestrierte Zusammenspiel von Stimmen und Musik ist eine gegenseitige Bereicherung.
Der tägliche Irrsinn
Nebeneinander, gegenüber, miteinander – egal, eine andere Hörbuchproduktion, die Zusammenstellung „Lauter. Bücher“ vom Wiener Verlag Redelsteiner Dahimène Edition kombiniert kurze Texte beachtenswerter österreichischer und bulgarischer, in den 1980er Jahren geborener Autor*innen wie Stefanie Sargnagel oder Todor Ovtcharov mit Songs von Vodoo Jürgens, Das Trojanische Pferd oder Der Nino Aus Wien. Die wiederum stehen bei den Labels Problembär Records oder redelsteiner &Seayou Entertainment unter Vertrag – beides Unternehmen der beiden Verleger. Eine Gesamtwerkschau sozusagen, die zugleich eine Revue der derzeit interessantesten österreichischen Autoren und Musiker ist.
Die Autoren lesen ihre humorvollen, hintersinnigen, den Irrsinn sowie die Banalität des täglichen Lebens kommentierenden Texte alle selbst vor. Das österreichische Idiom Maria Hausers, die unprätentiös und ungeschliffen aus ihrem Debüt „Jauche“ liest, und die abgeklärte Rohheit, mit der Stefanie Sargnagel ihre tagebuchartigen Einträge aus „Binge Living“ oder „Fitness“ vorträgt, ja bisweilen rappt, oder die slawische Aussprache Todor Ovtcharovs unterstreichen die brillante Eigenwilligkeit und dabei schlichte Wahrhaftigkeit der Texte.
Ovtcharovs Erzählungen „Varna“ und König der Löwen“ aus dem Band „Die Leiden des jungen Todor“ schlagen einen weiten erzählerischen Bogen und brillieren mit poetischer Süffisanz. Der „wandelnde FPÖ-Alptraum“ Bogumil Balkansky liest aus „In Neuseeland sind Briten die Tschuschen“, seiner Sammlung von erfrischend unkorrekten Kolumnen, die zunächst beim Standard Online erschienen sind – „Ich hab nix gegen die Tschuschn, Ich kann sie bloß nicht leiden“.
Zwischendurch legen Krixi, Kraxi & die Kroxn die Vermutung nahe, dass Countrymusik in Wahrheit aus Österreich kommt, und Vodoo Jürgens croont mit Schmackes „3 gschichtn ausn Cafe Fesch“.
Sylvia Prahl
Ingo Schulze: „Die Abflussrohre spuckten ihre Eisblöcke wie abgelutschte Bonbons auf den Gehsteig“. Hörspiel mit Musik, Ensemble Modern, 1 CD, 78 Min., Ensemble Modern Medien
Diverse: „Lauter. Bücher“, 1 CD, 78,58 Min., Redelsteiner Dahimène Edition, www.rdeedition.com
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