Unsere schwere Jugend. Die doofen Wärter. Wie man aus altem Toastbrot Schnaps macht
: Knastgespräche

Liebling der Massen

Uli Hannemann

Sonntagmittags gehen wir gewöhnlich für wenigstens’ne Stunde raus. Wir zwingen uns dazu. Man muss nun mal an die frische Luft. Ich glaube nämlich, dass man sonst ziemlich sicher stirbt. Wenn nicht gleich, dann später.

Die kürzeste Schlechtwetternotroute führt durch die Falckensteinstraße, am Görlitzer Park links rum, am Schlesischen Busch noch mal links rüber zur Schlesischen Straße und dort zurück. Eine Stunde dauert das nur deshalb, weil ich am Sportplatz immer stehen bleiben und beim Fußball zugucken muss. Ich kann nicht anders.

Was mich zugleich fasziniert und anwidert, ist das ständige Gepöbel gegen den Schiedsrichter. Er kann es niemandem recht machen. Vielleicht macht er auch mal Fehler, aber die Spieler können doch selber nichts. Sie stolpern übergewichtig und blind über den Platz, bloß der Schiedsrichter soll alles sehen. Wenn ein Tor fällt, bin ich zufrieden. Dann setzen wir unseren Weg fort.

„Ächz“, sagt sie, und sie sagt wirklich „ächz“, denn wir sind beide kulturell von Donald Duck und Asterix geprägt, „ächz, verdammt, können wir jetzt vielleicht mal wieder rein?“ Sie will Serie gucken. Teechen. Sofa. Die Füße hochlegen für den Rest des Tages. Oder das scheißschwierige Rätsel im SZ-Magazin lösen. Mit mir zusammen, aber ich sitze meist nur blöd daneben. So kann sie mal wieder ihre geistige Überlegenheit beweisen. Toll, Glückwunsch, dabei ist das überhaupt nicht nötig.

Mir ist halt irgendwann mal aufgefallen, dass sie meine erste Freundin ist, bei der ich mir absolut sicher bin, dass sie deutlich intelligenter ist als ich. Ich hab auch kein Problem damit, dass bei uns fast so ein traditionelles Geschlechterverhältnis herrscht, bloß eben mit vertauschten Rollen. Sie ist eher so die Checkerin. Sie bekommt auch für den gleichen Job mehr Geld, was allerdings nicht schwer ist: Jede Laus verdient mehr als ich. Loser Pay Gap. Dafür muss ich einfach nur schön sein. Sonst nichts. Das macht mein Leben wunderbar unkompliziert.

„Knurr“, sagt sie, „jetzt ist es aber wirklich langsam genug.“ – „Nur noch diesen kurzen Schlenker“, bettle ich: Schlesischer Busch und dann zurück. Also wie immer. Um die freudlose Chose spielerisch aufzulockern, stellen wir uns vor, dass wir im Knast sind und nur einmal am Tag’ne Stunde rausdürfen für eine Pflichtrunde an der frischen Luft.

Im Grunde ist es ja auch so. Unser Dasein ein Knast, der Winter als Strafverschärfung. Der Hofgang immer im Kreis – Görli, Sportplatz, Schlesische -, über uns der schon mittags nach Weltuntergang aussehende ewig dunkelgraue Himmel. Fehlt nur noch der Maschendraht davor.

Die Stimmung wird komplett, als wir den Wachturm auf dem ehemaligen Mauerstreifen passieren. Um die Hofgangssituation zu simulieren, improvisieren wir Knastgespräche. Unsere schwere Jugend. Die doofen Wärter. Wie man aus altem Toastbrot Schnaps macht. Wofür wir einsitzen. Natürlich färben wir die Schilderungen unserer Vergehen auf eine Weise ein, die uns und unsere Taten clever, hart und irgendwie cool aussehen lassen soll. Ich musste einen Nazi umbringen, der meine Schwester beleidigt hat. Ging nicht anders. Meine Freundin hat im großen Stil Silberbesteck geklaut, um ein Waisenhaus in Laos zu finanzieren. Hat ihre Freiheit geopfert, um ein wenig Glanz in stumpfe Kinderaugen zu zaubern. Weihnachten ist immer die härteste Zeit hier. Zum Glück werden wir beide im Frühjahr entlassen.

„Wenn ich rauskomme, werde ich als Erstes ein paar Rechnungen begleichen“, sage ich und versuche meine Stimme rau und gefährlich klingen zu lassen. „Was für Rechnungen?“

„Na ja: Strom, Gas, Miete, Mitgliedsbeitrag für AfD, ADAC und Alpenverein, so was eben“, sage ich, „und du?“ – „Goldene Löffel klauen“, sagt sie, und ihr Blick wird schwärmerisch. „Das wollte ich schon immer.“