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Nichtkaffee ohne Milch

Tanz Die stärksten Stücke der diesjährigen Tanztage gehen der Wirklichkeit an den Kragen

Szene aus Maria Walsers und Emma Tricards Choreografie „What A Thought Is Not“ Foto: Gerhard F. Ludwig/Tanztage 2017

von Astrid Kaminski

Eine Mittzwanzigerin in der Straßenbahn cremt ihre Hände ein. Dazu holt sie ein Döschen in Handschmeichlerform aus der akkurat aufgeräumten Handtasche, öffnet mit spitzen Fingern den kleinen Verschlusspfropfen, presst mit elegant ballettös sortierten Fingern den Handschmeichler zwischen Daumen und Mittelfinger, tupft eine behutsame Portion einer golden-transparent schimmernden Essenz auf den Handrücken, verschließt das Döschen, lässt es ins Täschchen gleiten und massiert den Tupfer in kreisenden Bewegungen, mit leichtem, aber zärtlichem Druck in die genüsslich ihre Poren öffnende und strahlend bis ins die Fingerspitzen dankbare Haut ein.

Ist das noch Realität oder ist das schon Hyperrealität? Angewandte Mediensimulation von Wirklichkeit? Oder Simulation von Mediensimulation? Denn eine konkrete Vorlage braucht es gar nicht mehr, um die Ästhetik von Werbung so zu simulieren, dass sie jederzeit film- beziehungsweise clipreif ist. In dieses Paradox spiegelbildlicher Bezüge aus physischer und virtueller Welt, aus Wirklichkeit und Bedeutung, aus Bezeichnung und Sinn stürzen Maria Walser und Emma Tricard ihr Publikum zur Eröffnung der Tanztage 2017 – dem traditionellen Jahresanfang der jungen Szenen. Und wie! In Walsers Choreografie „What A Thought Is Not“ gibt es kein großes Geheul zum Ende der Wirklichkeit oder ein mühsam medienkritisches Sezieren, sondern eher ein so kabarettnahes wie vertracktes Performing back. Kollaborateur und gleichzeitig Gegner: Jean Baudrillards Simulationstheorie.

Den Kampf gegen die Wirklichkeit und ihr Abhandenkommen gewinnen zu wollen, das muss man erst einmal wagen. Selten hat sich bei den Tanztagen ein Team so furios an die Rampe gespielt wie hier. Erst in Gestalt eines Pinguinschweins und eines Pinguinnagers (oder eines Nagerpinguins und eines Schweinpinguins?), später in Alltagsgarderobe, unterziehen die zwei Performerinnen die Wirklichkeit einer Theorieprobe und die Theorie einer Wirklichkeitsprobe und mischen munter beides zusammen: „Reality is a mirror that we look in from time to time in order to be sure that we are still part of the picture.“ Es wird ein Glas getrunken, eine Beethovensonate geschluckt, versucht, an unsere Nichtexistenz zu glauben, Nichtkaffee ohne Milch zu trinken oder ein Jobangebot in einem wortwörtlich genommenen Höflichkeitsdialog auszuhebeln. Dabei tariert das zwischen Körpersprache, deutendem Gestus und abstrakter Bewegung switchende Duo den Kompliziertheitsgrad ihres Unterfangens so aus, dass sie das Publikum um jede scharfe oder stumpfe Ecke mitnehmen und empathisch mitseufzen lässt, wenn Walser Tricard fragt: „How did you wake up this morning?“ und darauf die Antwort lautet: „Lost“.

Wem danach die Wirklichkeit nur noch wie ein Nebelfeld erscheint, der/die ist in der Teheran-Sektion des Festivals richtig. Wie bereits in den zwei Vorgängerjahren unter der Tanztage-Kuratorin Anna Mülter gibt es auch in diesem Jahr wieder die Möglichkeit zur Begegnung mit einer außereuropäischen Szene. „If you want to see reality, go there“, wirbt Mohammad Abbasi für das von ihm gegründete Teheraner „Untimely“. Über das Untergrundfestival existieren aufgrund des iranischen Tanzverbots keine Zeugnisse im Netz, es wird ausschließlich durch Mundpropaganda beworben und kann nur durch einen Vorortbesuch erlebt werden. Oder eben auf den Tanztagen (wobei nicht über alle Künstler*innen berichtet werden darf).

Die erste Marke setzt Sorour Darabi mit der Performance „Farci.e“, in der sie der von Sprache erzeugten Wirklichkeit nachspürt. Im Farsi haben weder Dinge noch Personen Geschlechter, im Französischen, der derzeitigen Alltagssprache Darabis, durchaus. Dieser Neutralitätsverlust ist Ausgangspunkt für eine gedehnte, surreale Lesung, in der das Manuskript letztlich gegessen statt verlesen wird und keine Gliedmaße sich dem klassischen Ritual mit Wasserglas fügt. Darabis von Spasmus und Reflexstörungen geprägter Kunstkörper gibt sich dysfunktional den an ihn gestellten Erwartungen gegenüber und verfolgt doch ganz klar eine konkrete Handlung, die in sich vollkommen stimmig und konzentriert vollzogen wird. Dieses Surreal-Queere, das Übersteigen und Unterminieren der symbolischen Wirklichkeit ist ein schönes Gegenstück zum hyperrealen Verlorengehen der Eröffnungsperformance. Und es ist fast schon eine Warnung an jenen Programmteil, der mit „Dokumentartanz“ betitelt ist und den die Kuratorin Anna Mülter, anknüpfend an die Erfolge des Dokumentartheaters, dem Festival versuchsweise verordnet hat. Das Experiment leidet vor allem daran, dass der Impuls finanziell und zeitlich unzureichend ausgestattet war. Vielleicht aber auch daran, dass die Wirklichkeit des Tanzes nur in dem Moment besteht, in dem sie hervorgebracht wird und sich Tänzer*innen für einen dokumentarischen Einsatz vollständig anderen Wirklichkeiten unterordnen müssen.

Die Tanztage laufen noch bis zum 15. Januar 2017

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