„Ein riesiger ästhetischer und sinnlicher Genuss“

KÖRPER IN BEWEGUNG Der Dokumentarist Frederick Wiseman hat sich in einem Pariser Nachtclub umgeschaut. Das Ergebnis, „Crazy Horse“, läuft nun in der Filmreihe „Dans Paris“ im Arsenal. Ein Gespräch über Vergänglichkeit und den Reiz des Mehrdeutigen

■ Der 1930 in Boston geborene Frederick Wiseman ist einer der wichtigsten Dokumentarfilmer weltweit. Seine Arbeit zeichnet sich durch einen beobachtenden, nicht urteilenden Zugang aus. Sein Interesse gilt den Funktionsweisen von gesellschaftlichen Einrichtungen im weitesten Sinne, dem Krankenhaus, einer gesetzgebenden Versammlung, dem Zoo. Filme u. a.: „Titicut Follies“ (1967), „Meat“ (1976), „Public Housing“ (1997), „La Danse“ (2009).

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Herr Wiseman, hatten Sie die Idee zu „Crazy Horse“ schon, als Sie an Ihrem Film über das Ballett der Pariser Oper, „La Danse“, arbeiteten?

Frederick Wiseman: Nein. „La Danse“ war schon in den Kinos, als mir die Idee zu „Crazy Horse“ kam. „La Danse“ habe ich 2007 gedreht, „Crazy Horse“ 2009.

Wo liegen denn die Unterschiede zwischen Ballett und Nachtclub?

Es sind ganz andere Choreografien. Bei „Crazy Horse“ dauert eine Tanznummer durchschnittlich vier bis fünf Minuten, während ein kurzes Ballett bereits 30 Minuten dauert. Im Ballett gibt es eher eine Geschichte, die Musik ist anders, und obwohl die Tänzerinnen in „Crazy Horse“ ein hohes Niveau haben, reichen sie doch nicht an die Tänzer und Tänzerinnen in der Pariser Oper heran. Die Zahl der Tänzer, die in größeren Ballettcompagnien tanzen können, ist begrenzt, es gibt da einfach nicht so viele Stellen. Das bedeutet, dass viele gute Tänzer nehmen, was sie kriegen können. Und es ist ja keine Schande, barbusig zu tanzen.

Gibt es denn auch Gemeinsamkeiten?

Die Fragen, die sich bei „Crazy Horse“ angesichts der Art des Publikums und der Art der Choreografien stellen, sind genauso interessant wie die, die aufkommen, wenn man sich mit dem Ballett der Pariser Oper befasst: Was macht Begehren aus, was macht Erotik aus, worin liegt der Unterschied zwischen Erotik und Sinnlichkeit?

Haben die Zuschauer in der Oper denn andere Beweggründe als die im Nachtclub?

Oh nein! Nach dem Besuch eines Balletts würde man sagen: Das war sehr sinnlich. Man würde wohl eher nicht sagen, dass es erotisch war. Aber das liegt vor allem daran, dass man sich wohler fühlt, wenn man das Wort „sinnlich“ statt „erotisch“ benutzt. Einmal sah ich zwei großartige Tänzer, sie waren komplett angezogen, aber wahnsinnig sexy, weil die Formen, die sie mit den Bewegungen ihrer Körper schufen, so schön waren.

Es liegt ein riesiger Genuss darin, Körper in Bewegung zu sehen, nicht wahr?

Oh ja. Ein riesiger ästhetischer und sinnlicher Genuss.

Schon einer der Ahnen des Kinos, Eadweard Muybridge, hat das in seinen Bewegungsstudien befeuert. Haben Sie eine Erklärung, warum das so ist?

Es hat etwas mit der Vergänglichkeit zu tun und damit, dass eine Form entsteht, auch wenn sie flüchtig ist. Solange es keine Aufnahmen gibt, existiert das alles ja nur in der Erinnerung. Und eine Performance ist niemals dieselbe, sie ist nicht beständig. Wenn sie funktioniert, ist sie unglaublich schön – und dann ist sie auch schon verschwunden. Man kann darin eine Metapher für die eigene Existenz erkennen. Und dann ist es künstlich – nicht im Sinne von falsch, sondern im Sinne einer Konstruktionsleistung.

„Crazy Horse“ richtet sein Augenmerk stark auf diese Leistung: Man sieht, wie viel Arbeit in den Darbietungen steckt, wie viel Kontrolle des Körpers nötig ist.

Es ist eine unglaubliche Anstrengung, und es bedarf jahrelangen Trainings, um diese Kontrolle zu erreichen.

Nun verheißen die Performances ja Sinnlichkeit – steht die Körperkontrolle diesem Versprechen nicht manchmal im Weg?

Die Fähigkeit, diese Kontrolle auszuüben, ist die Grundlage dafür, dass alles funktioniert. Ohne die Kontrolle wäre es zufällig. Die Form entsteht durch die Präzision, mit der der Körper, die Zehen, die Arme bewegt werden. Improvisation ist möglich, aber man kann eben nur dann improvisieren, wenn man die Kontrolle hat.

Gilt das auch für Ihre Arbeit als Filmemacher?

Ja! Besonders am Schneidetisch. Bei „La Danse“ wie bei „Crazy Horse“ hatte ich jeweils 150 Stunden Rohmaterial – ohne jede Form, bis ich durch die Montage eine Form herstelle.

Wie geht das denn konkret vor sich? Wie finden Sie die Form?

Ich sitze auf meinem Stuhl, lege einen Sicherheitsgurt an, stecke mir eine Spritze in den Arm, um intravenös ernährt zu werden, und ein Jahr später, wenn der Film fertig ist, stehe ich auf.

■ Mit Frederick Wisemans „Crazy Horse“ (Frankreich/USA 2011, 134 Min.) eröffnet heute um 20 Uhr im Arsenal-Kino die Filmreihe „Dans Paris“, die die französische Hauptstadt mit den Mitteln des Kinos erkundet. „Crazy Horse“ schaut sich an, wie im gleichnamigen berühmten Nachtclub eine neue Choreografie entwickelt wird. Die Tänzerinnen schminken sich und präsentieren ihre aberwitzigen Kostüme, der künstlerische Direktor versucht seine Visionen gegen die ökonomischen Zwänge zu verteidigen, und die Proben erfordern höchsten Körpereinsatz. Denn Erotik ist harte Arbeit.

Okay.

Am Anfang ist es langweilig, ich sitze da und habe 150 Stunden Material, das ich studieren muss. Ich kann nicht schneiden, solange ich das Material nicht in- und auswendig kenne. Das ist wie bei einer Doktorarbeit: Man kommt mit 5.000 Karteikarten aus der Bibliothek, mit all den Exzerpten, die man sich gemacht hat, und dann sieht man sie durch.

Ich hatte den Eindruck, dass die Form, die Sie für „Crazy Horse“ gewinnen, zunächst darin besteht, sich auf die Proben und die künstlerischen Auseinandersetzungen zu konzentrieren. Dann öffnen Sie den Film.

Ja, im letzten Drittel des Films gibt es eine Öffnung, wenn der Choreograf und der künstlerische Leiter interviewt werden – nicht von mir, sondern von Fernsehteams –, wenn sie erklären, was sie tun. Es geht dann um Fragen nach dem Wesen der Erotik, nach dem, was weibliche Schönheit ausmacht.

Ich mag Ihre Filme, weil sie beobachten, statt zu urteilen. Ich habe als Zuschauerin immer die Möglichkeit, meine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Bei „Crazy Horse“ hatte ich gleichwohl den Eindruck, dass Sie sehr genießen, was Sie filmen.

Aber das tue ich doch immer! Manches in „Crazy Horse“ ist sehr komisch – und das nicht etwa, weil ich es so anordnen würde, nein, es ist einfach komisch, besonders dort, wo es um die weibliche Schönheit geht.

Was machen Sie denn, um diesen Effekt zu erzielen – dass der Zuschauer zu seinem eigenen Urteil kommen kann?

Ich gehe eher wie ein Romanautor vor als wie ein Journalist. Meine Ansichten finden einen indirekten Ausdruck, in der Auswahl und Anordnung der Sequenzen. Mich reizt das Mehrdeutige, das prägt den Film. Insofern ich weder Propaganda betreibe noch didaktisch bin, bin ich ein Anti-Michael-Moore. Andererseits haben meine Filme sehr wohl eine starke Haltung, aber Sie müssen arbeiten, um herauszufinden, wie sie aussieht.