: Sozialer Aufstieg auf dem Blizzard Trail
Skiwandern Im Eissturm durch die norwegische Hardangervidda: Einem berauschend schönen Tag folgt ein Orkan, der die Nerven blank liegen lässt
von Sven-Michael Veit
Lautlos kommt die vermummte Gestalt auf mich zu, langsam schält sie sich aus der weiß-grauen Konturlosigkeit. An der Körperhaltung erkenne ich, dass es Claudia sein muss. Sie hält neben mir und schaut mich an. Zwischen hochgezogenem Kragen, Schal, Stirnband, Kapuze und Sonnenbrille ist nur die Nasenspitze zu erkennen. Mit dem Skistock beschreibt Claudia eine Kurve hinter meiner rechten Schulter. Ich nicke zustimmend. Dort müsste die kurze, knackige Abfahrt sein. Die noch runter, dann sollten wir das Schlimmste überstanden haben. Sofern wir tatsächlich da sind, wo wir vermuten. Wenn nicht, haben wir ein Problem.
Vor gut einer Stunde ist der Sturm über unsere zehnköpfige Gruppe hereingebrochen. Wir hatten gerade auf dem engen Waldweg den steilen Anstieg aufs Fjell bewältigt und liefen an der Westseite der Gipfelkette entlang auf der Suche nach dem hohen Pass, dem Einstieg zur Drei-Täler-Tour, wie wir diese Route durch zwei Bergmassive getauft haben. Unvermittelt schlug der Nordwest zu, wirbelte Schnee und Eis auf und trieb es in einer 20 bis 30 Meter hohen Wolke über das Gelände. Es schneite nicht, über dem Eissturm war blauer Himmel, bisweilen konnten wir schemenhaft die Sonne erkennen.
Aber wir da unten am Boden sind mittendrin, eine Verständigung ist unmöglich. Der Sturm steigert sich zum Orkan und reißt die Worte von den Lippen, bevor sie das eigene Ohr, geschweige denn das eines anderen erreichen können. Die Sicht beträgt nur wenige Meter, die Konturen verschwimmen, Bodenwellen wie Bodendellen sind kaum wahrnehmbar, die Sturzgefahr ist beträchtlich. Es ist eisig: Bei Windstärke zwölf fühlen sich minus fünf Grad an wie minus 30 Grad. Zum Glück laufen wir vor dem Sturm her, gegen an könnte zu Erfrierungen an ungeschützten Wangen, Nasen und Ohrläppchen führen.
Wir nehmen eine selten gelaufene Abkürzung südlich zweier Gipfel, an deren Ende eine kurze, heftige Abfahrt wartet. Das ist nicht ohne Risiko. Aber die übliche Route hinter den beiden Bergspitzen würde zwei Stunden länger dauern, und außerdem wäre da noch die „Weiße Wand“: Eine 30 Meter hohe, fast senkrechte Kante mit Schneebrettern und Wechten. Abfahren kann man sie nur auf der Südostflanke. Das ist schon bei guter Sicht anspruchsvoll, jetzt aber unverantwortlich. So oder so – wir sitzen ganz schön in der Patsche.
Dabei kennen wir es doch wie unsere Westentasche, „unser“ Tal in der Hardangervidda, der größten Hochgebirgsebene Europas, halb so groß wie Schleswig-Holstein. Wir fahren regelmäßig hierher, jedes Jahr im März in ein Haus direkt an der Grenze zum Nationalpark, der allein fünfmal so groß wie Hamburg ist. Zwei Wochen lang hausen wir dort mit 20 bis 30 Leuten in einer WG, schmuggeln Fleisch, Wurst und norwegischen Aquavit ins Land, trinken absolut reines Felsquellwasser aus dem eigenen Brunnen, kochen abends gemeinsam und hocken anschließend im warmen Kaminzimmer zusammen. An diesem Abend wird es lange Debatten über die richtige Ausrüstung geben, der Kauf von Alu-Klappspaten und Leuchtraketen wird erwogen. Aber das wissen wir jetzt noch nicht.
Vorgestern, an einem strahlenden und windstillen Tag, waren wir auf den Skinnuten gestiegen, auf einen der höchsten Gipfel über unserem Tal. Die Wintersonne knallte, der Schnee glänzte intensiv, die Weitsicht war berauschend gewesen. Im Nordwesten, 60 Kilometer entfernt, lag Hardangerjökulen, der große runde Gletscher, wie eine riesige, eisige Schildkröte auf der Hochebene. Im Süden drohte die schwarze Schattenwand des Gausta, des heiligen Berges, den jeder Norweger mindestens einmal in seinem Leben erklommen haben muss. Volle 600 Meter hoch erhebt sich die fast senkrechte Nordwand, auf die wir blicken, über die anderen von Gletschern rund geschliffenen Gipfel.
Hier am Skinnuten ist das Leben leicht an diesem warmen Tag, den auch die Tiere genießen. Mehrmals flattern Schneehühner vor uns auf, Rentiere und Füchse haben Spuren hinterlassen. Am wolkenlosen Himmel kreist gemächlich ein Steinadler. In Serpentinen hintereinander gehend haben wir die letzten 180 Höhenmeter zum Gipfel zurückgelegt. Nach 30 Schritten tritt der Führende aus der Spur, lässt die Gruppe vorbei und schließt hinten wieder an. So bekommt jeder alle paar Minuten eine Verschnaufpause, im Team und ohne unnötige Kraftverschwendung kommen wir gemeinsam oben an. „Sozialer Aufstieg“ nennen wir das.
Aktuell haben wir andere Sorgen. Sabine* ist fix und fertig. In einer halbwegs windstillen Mulde ist sie mit Kreislaufproblemen zusammengesackt. Schwer atmend sitzt sie auf ihrer Isomatte, wird mit Tee, Energieriegeln und aufmunternden Worten versorgt, Sonja* massiert ihr den Nacken. Sabine hat Angst, aber damit ist sie nicht allein. Auch bei Anna*, Torsten* und Peter* zeugen flackernde Blicke von Nerven, die zum Zerreißen gespannt sind. Ruhe bewahren, bloß keine Panik aufkommen lassen. Corinna* und Kathrin* indes sind noch recht gelassen. Die erfahrenen und besonnenen Läuferinnen passen hinten auf, dass niemand zurückfällt.
Obercool ist Julia*, Kathrins Tochter. Als Kind hat sie viele Jahre mit ihrer Mutter in Norwegen gelebt und ist entsprechend abgehärtet. Die 18-Jährige fühlt sich in diesem Sturm zwar nicht wohl, wie sie später einräumt, aber auch nicht unsicher. Teile unseres Survivaltrips hat sie mit einer kleinen Handkamera gefilmt. Nach dem Abendessen führt sie ihr Werk im Kaminzimmer auf dem Laptop auf: Rasende Schnee- und Eiswolken, schemenhafte Gestalten, die im Nichts verschwinden, erschöpfte Gesichter und ohrenbetäubend laute Windgeräusche – Julias Szenen aus dem Inneren des Orkans machen mächtig Eindruck auf die anderen, die nicht mit uns unterwegs gewesen waren.
Claudia und ich beraten über die Route. Wir hatten versichert, den Weg zu kennen, die anderen verlassen sich auf uns. Jetzt müssen wir liefern. Eigentlich müsste rechts eine breite Rinne hinunter in den Wald führen. Zu eng dürfen wir aber nicht abbiegen, denn irgendwo da ist eine Klippe, die jetzt womöglich von einer Schneewechte verdeckt wird. Dort ein paar Meter tief über die Kante zu fallen, könnte zu bösen Verletzungen führen. Wir beschließen, den Abstieg in großen Schwüngen anzugehen, obwohl wir dann mehrfach gegen den Wind kreuzen müssen. Keine schöne Aussicht, aber da müssen wir jetzt durch.
20 Minuten später stehen wir 100 Meter tiefer in Windschatten und Sonnenschein, der Orkan tobt oben am Berg durch den Pass, den wir heruntergekommen sind. Am Abend vor dem Kamin werden wir dieser bislang namenlosen Strecke einen passenden Namen verleihen: Blizzard Trail.
Jetzt noch eine halbe Stunde am Hang durch den lichten Birkenwald nach Kjellebu, der obersten Hütte an der Baumgrenze, wo wir schon so oft Rast gemacht haben, wenn wir von den Bergen herunter kamen. Bei der dringend notwendigen Pause auf der überdachten Holzterrasse mit Talblick ist die Erleichterung nicht nur bei Sabine spürbar, die tapfer durchgehalten hat. Jetzt, das wissen alle, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen. Noch eine knappe Stunde werden wir brauchen auf vertrauten Wegen durch den Wald hinunter zu unserem Haus, wo Dusche, Sauna und Abendessen auf uns warten.
Morgen wollen Claudia und ich einen Ruhetag einlegen, lesen, höchstens zu einem kleinen Lauf durchs Tal werden wir uns aufraffen. Nach Abenteuern steht uns erst übermorgen wieder der Sinn. Frühestens.
* Namen geändert
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