: Europas letzte Heiden
Die Mari glauben an die Beseeltheit der Dinge und an unübersehbar viele Götter. In fürs Beten gepflegten Wäldern darf kein Baum gefällt, nicht geraucht und nicht gelogen werden
AUS JOSCHKAR-OLA ANN-DORIT BOY
Der alte Mann mit dem weißen Hut sieht aus wie ein Zauberer. Wie er beschwörend die faltigen Hände hebt und sich vor einer hohen Fichte verneigt, während in drei dampfenden Kesseln über einer Feuerstelle das Fleisch eines jungen Bullen, ein Hammel und ein Dutzend Gänse zu salzig-fettiger Brühe verkochen. In einer fremden, weichen Sprache redet der bärtige Alte zu den Göttern des Waldes und der Natur. Er bittet sie, das Opfermahl gnädig anzunehmen. Auf dem feuchten Waldboden knien dicht gedrängt betende Menschen: Männer in schweren Stiefeln und Frauen in dicken Mänteln, unter denen die Säume bunter Trachtenkleider leuchten. Mit kehliger Stimme bittet der Zauberer um Wohlstand, Gelingen und Gesundheit für alle, die an diesem Tag gekommen sind. Am Ende denkt er auch an diejenigen, die auf Erden zu entscheiden haben. „Wir bitten auch für Dmitri Medwedjew und Wladimir Putin“, singsangt der Alte. „Dass es Ihnen gut gehen möge, und dass Sie auch uns helfen.“
Jetzt ist klar: Wir befinden uns in Russland. Genauer: in der Teilrepublik Mari El, mitten im Wolgabecken, 800 Kilometer östlich von Moskau. Die Republik, so groß wie Mecklenburg-Vorpommern, ist einer der ärmsten Flecken des Landes. Hier hat man von der Wirtschaftskrise nichts gemerkt, weil es schlimmer sowieso nicht werden kann. Auf den kahlen Feldern stand im Sommer Getreide, mehr als die Hälfte des Bodens ist von Wald bedeckt, der für russische Verhältnisse bemerkenswert wenig zerstört ist.
Seine Gesundheit verdankt das marische Gehölz dem Fehlen von Industrie und dem „Zauberer“ und seinen Leuten, den Mari. Das finnougrische Volk, das seit dem 6. Jahrhundert nach Christus in der Wolgaregion siedelt, hat sich trotz Christianisierung, Stalin und Sowjetunion seine polytheistische Naturreligion erhalten. Die Mari glauben an die Beseeltheit der Dinge und eine unübersichtlich große Zahl von Göttern, denen sie regelmäßig Tiere und Speisen opfern. In hunderten speziell zu diesem Zweck gepflegten Waldgebieten, den heiligen Hainen, darf kein Baum gefällt, kein Pilz gepflückt, nicht geraucht, nicht geflucht und nicht gelogen werden. Die sauberen Lichtungen sind die Kathedralen der Mari.
Am heiligen Hain von Mari-Turek, im Osten der Republik, haben sich an diesem kalten Herbstsonntag rund 150 Mari versammelt. An drei Feuerstellen haben sie seit dem frühen Morgen die mitgebrachten Tiere geschlachtet und zerlegt, Gänse gerupft und sie nach Anleitung des Zauberers gekocht. Der ist in Wirklichkeit übrigens ein „Karta“, ein ehrenamtlicher Opferpriester, einer von vieren an diesem Tag.
Brot und Krüge
Die Mari sind überzeugt, dass ihnen alles, was sie opfern, vielfach vergolten wird. Auf dem Tisch vor der 62-jährigen Jekaterina stapeln sich deshalb gelbgoldene Pfannkuchen, Brote und Krüge mit selbst gemachtem Kwas, einem braunen, bierähnlichen Getränk. Wie ihre Freundinnen aus dem Nachbardorf hat die pensionierte Lehrerin zur Feier des Tages ein weißes Trachtenkleid angezogen, mit bunten Stickereien und einem silbernen Brustschmuck. Die Frauen sind stolz auf ihre einzigartige Kultur. „Wir sind die letzten Heiden von Europa“, versichert Jekaterina.
Von den heute gut 600.000 Mari lebt nur die Hälfte in der Republik Mari El, die meisten anderen siedeln im nahen Baschkortostan und im Gebiet Kirow. Nennenswerten politischen Einfluss haben sie nirgends, auch nicht in der nach ihnen benannten Republik, wo die Mari immerhin 42 Prozent der Bevölkerung stellen. Das Sagen hat die Mehrheit, und das sind, mit 48 Prozent, die Russen. In Kabinett sitzen nur zwei marische Minister, die für Landwirtschaft und Kultur. Auch in der Verwaltung sind Mari kaum vertreten, und die beiden marischen Dialekte, obwohl offizielle Sprachen der Republik, werden an immer weniger Schulen unterrichtet.
Das war früher anders. „Der erste Präsident war ein Mari, da war alles in Ordnung, der zweite ein Russe, das ging auch noch. Und dann kam der Moskauer.“ So beschreibt Wladimir Koslow die schrittweise Degradierung seines Volkes seit der Gründung der Republik 1991. Der Literaturwissenschaftler und Estnischübersetzer ist eine der lautesten Stimmen der marischen nationalen Bewegung. Ende der 80er-Jahre nutzten gebildete Mari wie Koslow die neu gewonnene Freiheit und gründeten religiöse, kulturelle und politische Organisationen. In den 90er-Jahren setzten sie sich dafür ein, dass marische Literatur gedruckt, Musik gespielt und die Sprache wieder an den Schulen unterrichtet wurde. „Die Mari waren damals die aktivsten in der ganzen finnougrischen Welt“, erinnert Koslow, der sich gerne auch mit seinem marischen Namen, Laijd Schemijer, vorstellt.
Schulen geschlossen
Im Jahr 2000 kam dann Leonid Markelow an die Macht, ehemals Mitglied der nationalistischen Partei LDPR, heute Anhänger von Putins Regierungspartei Einiges Russland. Der junge Präsident verkündete in seiner Antrittsrede, dass es keinerlei Probleme zwischen den Nationalitäten gebe; dann fing er an, den Marischunterricht zu kürzen und Schulen zu schließen. „Wie kann das sein, wenn wir offiziell drei Sprachen haben?“, empört sich Koslow. Alles, was man wolle, sei doch ein respektvoller Umgang mit der Kultur, Aufmerksamkeit für die Landbevölkerung und dass die marische Sprache überall bis zur vierten Klasse unterrichtet werde. Aber dem Präsidenten stehe der Sinn offenbar nach anderer Kultur.
Der hagere Endvierziger Koslow sitzt auf einer Ledercouch im Foyer des Ludovico Moro, eines nagelneuen Hotels direkt hinter dem Präsidentensitz. Das feine Haus heißt nicht nur nach dem Mailänder Herzog und Da-Vinci-Förderer, es sieht auch so aus: An sämtlichen Wänden hängen blasse Nachdrucke italienischer Renaissancekunst. Reichlich deplatziert wirkt das in der bescheidenen Provinzhauptstadt Joschkar-Ola, genau wie das große Einkaufszentrum auf der anderen Seite des Präsidentensitzes, das frappierend an das Rathaus des toskanischen Siena erinnert. In der Stadt munkelt man, der Präsident habe sich bei der Stadtplanung von einem italienischen Bildband inspirieren lassen.
Wenn er daran denkt, kann sich Koslow ein ironisches Lächeln nicht verkneifen, aber sein Kampf mit den Machthabern war und ist keineswegs lustig. Die Regierungszeitung Mariskaja Prawda überzog den Aktivisten mit einer Hetzkampagne, seine eigene, marische Zeitung Kudo Kodu durfte nicht mehr in der Republik gedruckt werden, und 2005 prügelten Unbekannte Koslow fast zu Tode. „Ich habe auf dem Boden vor der Redaktion gesessen, meinen blutenden Kopf gehalten und gedacht, dass ich nun sterbe“, sagt er. Ein Jahr später verprügelte man seine Frau.
Kultur- und Presseminister Michail Wassjutin, selbst ein parteiloser Mari, sieht die russisch-marischen Beziehungen von Amts wegen sehr viel rosiger. Besondere Probleme gebe es da nicht. Warum man die marischen Schulen geschlossen habe? „Aus demografischen Gründen“. Dafür stelle man aber die heiligen Haine unter Naturschutz und finanziere auch Festivals, Konzerte und Theater. Dass viele marische Kulturprojekte ihr Geld in Wirklichkeit von den estnischen und finnischen Nachbarn bekommen, sagt er nicht.
Das wissen aber viele Mari. „Ich finde, dass die Beziehungen zur Markelow-Regierung schwierig sind und dass die marische Kultur und Sprache auf dem Rückmarsch sind“, schreibt ein Leser des marischen Blogs MariUver. Andere gehen noch weiter. „Der Kreml hat das Ziel, seine Kolonialvölker auszurotten“, und: „Die wollen verhindern, dass die Burjaten, Kalmücken, Tataren und Mari sich souveräne Demokratien aufbauen, ganz wie in den 30er Jahren.“
Der Kommentar ist eine Anspielung auf Stalins Säuberungen, denen auch viele Mitglieder der marischen Intelligenzija zum Opfer fielen. Ihre Identität verloren die Mari in der Sowjetunion trotzdem nie ganz. Auf dem Land sprachen sie weiter Marisch und beteten heimlich im Familienkreis. Als es in Russland wieder modern wurde, sich Ikonen an die Wand zu hängen, nahmen viele den Christengott einfach in ihren Götterhimmel auf. Zwei Drittel der Mari bezeichnen sich heute als russisch-orthodox. Die Hälfte gibt an, regelmäßig zu heidnischen Opfergottesdiensten zu gehen.
„Rückkehr zur Steinzeit“
Diese „Doppelgläubigen“ sind für Vater Wladimir ein Graus. Der zerzauste Priester „dient“ seit vielen Jahr im Dorf Petjal, wo es, gottlob, keine Heiden gibt. An diesem Mittwoch ist er in die Hauptstadt gefahren, um mit einem Kollegen am Bischofssitz religiöse Texte ins Marische zu übersetzen. „Die haben ja nicht einmal eine Heilige Schrift“, sagt er verächtlich schnaufend über seine heidnischen Landsleute. Wladimirs Chef, der Bischof Ioan, bezeichnet die Naturreligion als „Rückkehr in die Steinzeit“ und ermuntert seine Schafe zu Missionierungskampagnen.
An der Karl-Marx-Straße von Joschkar-Ola, in Sichtweite des strahlend weißen Bischofssitzes, wachsen zurzeit drei große, neue Kirchen in den Himmel, und gegenüber lässt der Präsident, der ein guter Freund des Bischofs Ioan sein soll, eine rot gemauerte Festung bauen, einen Kreml, genau wie den in Moskau. Vor wenigen Wochen hat Markelows Partei haushoch die Regionalwahlen gewonnen. Die Opposition klagt zurzeit wegen Wahlfälschung, doch Premierminister Wladimir Putin hat dem Präsidenten bereits Unterstützung für eine weitere Amtszeit zugesichert.