Ein Gehirn häkeln

Rekonvaleszenz vor laufender Kamera: Katharina Peters’ Film „Am seidenen Faden“

Dokumentarfilme sind en vogue. Die meisten handeln von Vergangenem. Interessante Leute erzählen, dazu gibt es Bilder. Auf der einen Seite sind die Filmer, auf der anderen Seite die Gefilmten, die von den Filmern irgendwie zum Objekt gemacht werden, weil es deren Job ist und die Geschichte interessant.

Das existenzielle Genre tagebuchartiger Filme, in denen Subjekt und Objekt verschwimmen, in denen der Akt des Filmens dazu dient, sich selbst, in einer Krise zumeist, zu verstehen, in denen sich das Filmen immer wieder selbst infrage stellt und diesen Prozess der Infragestellung abbildet, ist selten geworden – aus Gründen der Ökonomie. Solche Filme sind schwer planbar; außerdem kann man sie als Zuschauer nicht aus sicherer Distanz angucken, weil die Position hinter der Kamera unsicher ist.

Als Katarina Peters im Dezember 1998 in New York mit ihrer kleinen DV-Kamera filmt, weiß sie noch nichts von dem Film, der später entstehen soll. Eigentlich ist die Regisseurin und Künstlerin zusammen mit ihrem Mann, dem 33-jährigen Cellisten Boris Baberkoff, nach New York gekommen, um einen Film über die dortige Kunst- und Galerienszene zu drehen. Ihr Mann steht kurz vor dem Abschluss eines Vertrages mit einer großen Plattenfirma. Beide haben erst vor kurzem geheiratet und sind guter Dinge.

Dann geschieht etwas. Nach einem fröhlichen Abend mit Freunden erleidet Boris einen schweren Schlaganfall. Die Diagnose lautet: „Stammhirninfarkt“. Der Arzt erklärt, Boris sei „locked-in“; das heißt, er ist bei vollem Bewusstsein in seinem Großhirn eingeschlossen. Einen Monat lang verbringt er in einem New Yorker Krankenhaus. Dann wird er vom ADAC-Rückholservice nach Berlin geflogen. Weil keine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen wurde, stehen die beiden mit 350.000 Dollar Schulden da.

Anfangs ist Boris noch in Lebensgefahr, dann beginnt der langwierige Prozess der Heilung. Der bewundernswert vitale Boris wird zum Kind, das die elementarsten Dinge wieder lernen muss; seine Frau wird zur Mutter. Eben noch wollte sie ein Kind von ihm; nun muss sie ihn windeln, und er sabbert beim Essen.

In ihrem Videotagebuch dokumentiert Katharina Peters die Rekonvaleszenz ihres Mannes, den Kampf beider um ihre Beziehung, die psychischen und sozialen Folgen des Unglücks. Der Akt der Aufzeichnung, der Objektivierung und Distanzierung also, hilft ihr, die Situation zu durchstehen. Vielleicht auch ihrem Mann – „ich sehe, wie die Kamera seine Fortschritte provoziert“, heißt es an einer Stelle.

Der Film bewegt sich auf zwei Ebenen. Das dokumentarische DV-Material erzählt von der Beziehung in der Krise, von Krankenhäusern und Reha-Zentren und vom Alltag danach; die inszenierten 35-mm-Bilder bebildern Träume. Oft sieht man Katarina Peters häkeln. Irgendwann merkt sie, dass das, was sie häkelt, aussieht wie ein Gehirn, wie der Rotkohl, den Boris schneidet.

„Am seidenen Faden“ beschreibt den Prozess, dessen Ergebnis er ist. Der Regisseurin ist es gelungen, sehr private, subjektive Empfindungen, Situationen zu objektivieren, also mitteilbar zu machen, ohne sich oder ihren Mann zu verraten. Ein großes Wagnis, denn der Grat ist schmal zwischen Kunst und Ausbeutung, Wahrhaftigkeit und peinlicher Entblößung. In einer Szene sagt Boris: „Schämen gibt es gar nicht; es ist sowieso alles nackt.“ Vielleicht ist dieser, durchaus auch manchmal anstrengende Film so gut gelungen, weil beide den Mut hatten, sich in ihrer Hilflosigkeit preiszugeben. Und dann hat der Film auch so eine seltsame Stärke; sich im Kopf des Zuschauer einzunisten, weiterzuentwickeln und sich mit anderem zu verbinden.

DETLEF KUHLBRODT

„Am seidenen Faden“, Regie: Katharina Peters. Dokumentarfilm, Deutschland 2004, 108 Min.