piwik no script img

Archiv-Artikel

dvdesk Die Auflösung der Bewegung und der Landschaft in Kamerafahrten

Wem das Kinoprogramm nicht reicht, der greift zur DVD. Unsere neue, zweiwöchentliche Kolumne weiß, was sehenswert ist. Zum Auftakt: „Gerry“ von Gus Van Sant

Vor ein paar Jahren noch schien es, als habe Gus Van Sant seine Seele an Hollywood verkauft. Nach grandiosen Anfängen als Regisseur von Filmen wie „My Own Private Idaho“ (1991) schien er reichlich weit vom Wege abgekommen. Er drehte Murks wie „Even Cowgirls Get the Blues“ (1994), Bizarres wie das entschlossen unoriginelle „Psycho“-Remake (1998), zuletzt gar die von allen guten Geistern verlassene Schmonzette „Forrester – Gefunden!“ (2000).

Dann aber zeigt Van Sant in Cannes 2003 „Elephant“, seine von Plot und Thesen sich souverän lösende Meditation über das Columbine-Highschool-Massaker – er erhält sehr zu Recht die Goldene Palme dafür. „Elephant“ war freilich bereits der zweite Teil einer Trilogie, die nun dieses Jahr mit dem Kurt-Cobain-Film „Last Days“ abgeschlossen wurde. Der erste Teil – und damit das eigentliche Zeugnis von Van Sants wundersamer Wiedergeburt – war „Gerry“ (2002), der in den USA trotz teils hymnischer Kritiken nur in ein paar Kinos zu sehen war. In Deutschland ist er nun mit einiger Verspätung wenigstens auf DVD greifbar.

„Gerry“ (2002) ist ein Meisterwerk des Minimalismus. Erzählt wird von nichts anderem als zwei jungen Männern, Gerry (Matt Damon) und Gerry (Casey Affleck), die in die Wüste gehen und sich dort verlieren. Was sie da suchen, geht aus den zu großen Teilen improvisierten Dialogen nicht hervor, „the thing“ heißt es mehrfach, aber das erklärt natürlich nichts. Bald stellen sie fest, dass sie nicht mehr wissen, wo sie sind – und vor allem, wie sie da wieder rauskommen.

Mit seinem Wüstenfilm entfernt sich Van Sant weit von seinem bisherigen Werk. Der Abspann aber erklärt mit einer Danksagung, dass er ein Mann unter Einfluss ist: „Gerry“ und die beiden nachfolgenden Filme verdanken ihren Stil der Begegnung mit dem Werk des ungarischen Regisseurs Béla Tarr. Dessen siebeneinhalbstündiges Haupt- und Meisterwerk „Sátántángo“ (1994) ist nicht weniger als die Neuerfindung der filmischen Langsamkeit. In majestätischen Schwarz-Weiß-Plansequenzen wird in der Topografie eines im Regen versinkenden ungarischen Dorfes zugleich eine plotferne Seelenlandschaft entworfen. (Eine reguläre Edition des Films ist eines der großen Desiderate des DVD-Markts.)

Die Auflösung der Bewegung und der Landschaft in Kamerafahrten ist das, was Van Sant von Béla Tarr gelernt hat. Er zitiert ihn, er ahmt ihn nach, aber „Gerry“ hat einen eigenen Ton, eine eigene Kraft – und vor allem einen sehr eigenen Humor. Zum existenzialistischen Regendunkel von „Sátántángo“ steht das gleißende Licht der Wüste in scharfem Kontrast. Es ist die Stärke von „Gerry“, dass der Film auf jeden Symbolismus verzichtet. Die Wüste steht im Grunde für nichts. Es geht alleine um das irreduzibel filmische Sich-Verlieren in den Widescreen-Bildern. Die wechseln zwischen monumentalen Landschaften, in denen von Menschlichem kaum eine Spur scheint, und Großaufnahmen der erschöpft sich dahinschleppenden Männer.

Diesem Sich-Verlieren gewährt van Sant eine Dauer, die mit Starrheit nichts zu tun hat. So ist der Höhepunkt von „Gerry“ eine siebenminütige Großaufnahme von Gerry und Gerry. Sie bewegen sich vorwärts, die Kamera fährt seitlich neben ihnen her. Zu hören ist das Geräusch der Schritte in der Wüste und es scheint, als wollte diese paradoxe und exzessive (Nicht-)Bewegung niemals enden. Nicht nur hier entwickelt der Stillstand des Plots in der Dauer der bewegten Bilder einen Sog, dem sich nur entziehen kann, wer ins Kino als Narration vernarrt ist.

Die deutsche DVD bietet einen verlässlichen Transfer der beeindruckenden Widescreen-Aufnahmen. Erfreulich gut gelungen ist die deutsche Synchronfassung, dennoch bleibt das Original mit seinen zusehends das Sinnlose streifenden Dialogen vorzuziehen – die deutschen Untertitel leisten brauchbare Aufklärungsarbeit. Leider gibt es kaum Extras: Ein unkommentierter Viertelstünder mit Szenen von den Dreharbeiten ist ärgerlich uninteressant, das nicht sehr erhellende Texttafel-Interview mit dem Regisseur ist zusammengestoppelt aus bereits existierenden Zeitschriften-Gesprächen. EKKEHARD KNÖRER

„Gerry“, Regie: Gus Van Sant, mit Casey Affleck, Matt Damon, USA 2002, 98 Min., Arthaus