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Archiv-Artikel

Die Chemielobby gibt nicht auf

Zwar musste die Industrie im Streit um die europäische Chemiereform eine Niederlage hinnehmen. Doch sollten sich Umweltschützer nicht zu früh freuen. Die Kampfabstimmung steht noch bevor

AUS BERLIN HANNA GERSMANN

Karl-Heinz Florenz ist in diesen Tagen ein gefragter Mann. Industrievertreter, Umweltschützer, Regierungsbeamte – alle wollen mit ihm über Chemiepolitik reden, ihn auf die eigene Seite ziehen. Der niederrheinische CDU-Abgeordnete ist Vorsitzender des Umweltausschusses im Europaparlament. Dessen Mitglieder stimmten am Dienstagnachmittag über die neue EU-Chemiereform ab. Das Ergebnis überraschte: Die Industrie erlitt eine Niederlage. Doch aufgeben wird ihre Lobby nicht. Die Kampfabstimmung steht erst noch bevor.

Einig sind sich alle nur darin, dass es um das größte Reformwerk der europäischen Umweltpolitik geht. Für 30.000 Chemikalien soll es zum ersten Mal einen Sicherheitscheck geben. Heute werden Substanzen ungeprüft verkauft. Nebenwirkungen stellen sich häufig erst heraus, wenn der Stoff schon Jahre auf dem Markt ist. Das jüngste Beispiel dafür heißt FTOH: Kanadische Forscher warnten, der Stoff, der im beschichteten Einwickelpapier für Hamburger steckt, schädige die Leber (siehe taz vom 30. 9.). Das neue Regelwerk soll Verbraucher besser schützen.

Wie das genau funktionieren soll, darüber wird nun heftig gezankt. Florenz musste sich durch 1.100 Änderungsanträge zum Gesetzentwurf kämpfen. So viele gab es noch nie. Andere Vorlagen konnten noch so umstritten sein, das Maximum waren 700 neue Vorschläge.

Der Kern des Chemiestreits: Welche Tests werden für Stoffe gefordert, die nur in kleineren Mengen produziert werden? Wer von einer Substanz zum Beispiel zwischen 10 und 100 Tonnen produziert, so heißt es im ursprünglichen Entwurf, muss einen 28-Tage-Test nachweisen. Wissenschaftler verstehen darunter einen Versuch, bei dem die Substanz einen Monat lang an Ratten verfüttert wird. Sind Niere oder andere Organe der Tiere auffällig geschädigt, folgen weitere Untersuchungen.

Die Chemiebranche wehrt sich vehement gegen diese Auflagen und findet dabei Verbündete. Die CDU soll ihrem Umweltpolitiker Florenz gedroht haben, ihn nicht mehr zur Europawahl aufzustellen, falls er die Interessen der Industrie vernachlässigt. Er selbst sagt nur, dass er „unter Druck“ sei. Die Strategie der Unternehmerlobbyisten hatte diesmal allerdings keinen Erfolg. Die Konservativen unterlagen im Umweltausschuss. Die meisten Sozialisten und Liberalen unterstützten die Grünen und sprachen sich gegen die Lockerung aus.

Trotzdem stehen die Chancen für die Industriellen gut. Sie könnten sich noch durchsetzen, weil eine Grundregel im Europaparlament plötzlich zur Disposition steht. Mitte November muss die Vollversammlung des Europaparlamentes entscheiden. Normalerweise folgt sie den Vorgaben des federführenden Ausschusses – in diesem Fall des Umweltausschusses. Doch CDU-Mann Florenz hat bereits angekündigt, im Plenum noch einmal die Änderungsanträge der konservativen EVP-Fraktion abstimmen zu lassen.

In Kraft tritt die Verordnung aber ohnehin erst, wenn ihr auch die EU-Staaten zustimmen. Bei ihnen zeichnet sich bereits eine Mehrheit für die unternehmensfreundliche Linie ab.