: Gelobter Kontinent
Europas Grenzen sind nur scheinbar unüberwindlich, wie die Stürmung der spanischen Enklavein Marokko beweist. Erstaunlich, dass die Bilder von diesen Dramen keinen Rassismus wecken
VON JAN FEDDERSEN
Europa war schon immer ein Kontinent mächtiger Völkerwanderungen. Seit dem Abschied vom Kolonialismus Anfang der Sechziger und der beschleunigten Globalisierung Ende der Achtziger ist Europa im Nahen Osten wie in Afrika überhaupt ein ersehnter Kontinent geworden; einer, den zu erreichen Lebenschancen verspricht, Aufstieg und Sicherheit, wie es in den jeweiligen Herkunftsländern nicht möglich ist.
Fakt ist: Die west- und mitteleuropäischen Gesellschaften vergreisen. Es wird mehr gestorben als geboren. Das zu ändern, kann keiner politischen Formation gelingen. Europa ist so sehr an das Gebot der Freiwilligkeit in privaten Fragen gewohnt, dass keine Propaganda nützt, es mal mit aufopferungsstarker Mutterschaft zu probieren. Kinder zu haben ist kein Vitalitätsvorteil mehr – das ist ein Zivilisationsfortschritt. Als Gegenteil müssen jene Gesellschaften beschrieben werden, aus denen fast alle Flüchtlinge kommen, die Europa erreichen wollen: hohe Geburtenraten, die selbst die frühe Sterblichkeit aufwiegen. Marokko, Burkina Faso, Nigeria, der Senegal oder selbst der arabische Jemen: Man bekommt Kinder zur Altersvorsorge.
Nur die Besten kommen
Und die Besten von ihnen wollen mehr, viel mehr: nach Europa. Jene, die die Zäune von Melilla oder Ceuta zu überwinden suchen, wissen ganz genau, was sie tun. Sie riskieren Hunger und Durst, Gefängnis und Gewalt durch Überfälle, um den Kontinent zu erreichen. Dort sind sie sicher – erstaunlich rührend die Fernsehbilder, die Menschen zeigen, welche den erfolgreichen Zaunüberkletterern Hilfe anbieten –, dort ist ein Leben jenseits von Auszehrung und Trostlosigkeit zumindest möglich. Und sie wissen, weil viele der Ihren es per Telefon von Europa aus übermittelt haben, dass Europa zwar ein Kontinent mit gar nicht so selten unfreundlichen Menschen ist – aber das ist nichts gegen die durch keinen Rechtsstaat eingehegte Gewalt, die sie aus ihren Heimaten kennen.
In Wirklichkeit scheint ihnen Europa wie ein Paradies, bevölkert von christlich inspirierten Menschen, die helfen, wo und mit was es nur geht. Wer es schafft, hat Kraft, Mut und Tapferkeit: Es sind eben genau jene Menschen, die Europa braucht, um seiner demografischen Alterung etwas entgegenzusetzen. Europa wird deshalb im Laufe von einigen Generationen weniger blond, weniger hellhäutig – dafür dunkler, afrikanisierter sozusagen. Das ist der Lauf der Dinge, und das mag gut so sein.
Finden gewiss unsere Kreise, alternativ und links, dem Morgenrot allzeit entgegen. Das dürfen sie sagen, denn sie haben keinen Anlass, um Jobs und Perspektiven zu fürchten. Die meisten ihrer Qualifikationen hängen zentral an den europäischen Sprachen – die sind jedoch von den neuen Einwanderern so schnell nicht zu erlernen. Aber die Schichten, die man früher gern die proletarischen nannte, haben allen Grund, sich vor den Migranten zu ängstigen: Ihre Arbeitsplätze sind rar – und sie werden umso schlechter entlohnt, je mehr Konkurrenz herrscht.
Die fahrlässige Festung
Europa muss also eine wenn auch hin und wieder lässig bis fahrlässig gebaute Festung bleiben – das ist aller Menschenliebe zum Widerschein der Kompromiss. Die Grenzen zu öffnen, würde nur rassistisch verhüllte, aber im Fokus nur um den Zugang zum Arbeitsmarkt kämpfende Wut provozieren. Nach allem, was man weiß, befördert solche Wut in Europa nur rechtspopulistische Kräfte – daran kann niemandem gelegen sein. Und: Grenzen, die keine sind, würden in Europa tatsächlich das fein austarierte System von Sozialstaatlichkeit zerstören.
Der Unterschied zu den Verhandlungen mit der Türkei um deren EU-Mitgliedschaft ist gewaltig: Mit einem Staat lassen sich Abkommen schließen, solche beispielsweise um freien Eintritt in die Arbeitsmärkte der Europäischen Union. Mit den afrikanischen Ländern hingegen nicht: Wie kann man mit an Migrationsfragen desinteressierten Staaten Verhandlungen führen? Der Druck des Zuwandererstroms ließe sich, so gesehen, nur lindern, machte man Entwicklungshilfe von der Garantie rechtsstaatlich-liberaler Grundsätze abhängig.
Melilla ist nur der Anfang des großen Trecks: Man sollte ihn herzlich willkommen heißen. Europa braucht Menschen wie sie; gerade weil sie aus ökonomischen Gründen kommen, nicht aus vordergründig politischen. Gesteckte Grenzen sind für ihre Überwinder auch ein Objekt des Stolzes, es geschafft zu haben: keine schlechte psychische Voraussetzung, um in Europa den Aufstieg zu schaffen.