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Mal‘ den Jesus Christus

Ausstellung Noch ein Jesus am Kreuz? Noch eine Madonna? Wie spannend die Geschichte religiöser Kunst im Kontext der beginnenden Moderne sein kann, zeigt die fabelhafte Ausstellung „Gott und die Welt“ in der Kunsthalle zu Kiel

Von Frank Keil

Jesus ist zu Besuch. Pünktlich zum Mittagessen hat er die karge Stube einer dort wohnenden, achtköpfigen Bauernfamilie betreten und jeder und jede von ihnen versucht nun, dieses besondere Ereignis zu erfassen: Der Hausherr etwa weist in leicht gebückter und ehrfurchtsvoller Haltung, aber doch mit einem gewissen Stolz auf den freien Platz am Tisch hin. Staunend und vor Emphase fast nicht mehr auf dieser Welt weilend die mittlere Tochter, um deren Kopf sich die vagen Umrisse eines zweiten Heiligenscheins andeuten. Skeptisch und abwartend dagegen blicken die anderen Geschwister ob des ungewohnten Gastes drein: Was will er von ihnen? Die Allerkleinste aber, die auf ihrem Platz sitzend kaum über den Tisch gucken kann, würdigt Gottes Sohn keines Blickes. Fast empört schaut sie auf ihren leeren Teller: Gibt es vielleicht mal was zu essen?

Der Maler Fritz von Uhde hat dieses Kind nahezu in die Bildmitte gesetzt; dem die Zukunft gehört und das alle Anwesenden – wenn es läuft, wie es laufen soll – nacheinander überleben wird. Der Titel seines Bildes: „Das Tischgebet („Komm, Herr Jesu, sei unser Gast“)“ aus dem Jahre 1885.

Die gewissermaßen malerische Sichtbarmachung einer bis heute zuweilen tagtäglich gesprochenen oder vielleicht auch nur leise gemurmelten Formel hängt im dritten Raum im Erdgeschoss der Kieler Kunsthalle, die ihren wechselnden Ausstellungsbereich derzeit dem Themenfeld „Gott und die Welt – vom sakralen zum autonomen Bild“ widmet.

Vom Deutsch-Französischen Krieg bis zur Moderne

Der zeitliche Rahmen umspannt die Jahre 1871 bis 1918 und reicht damit von dem Moment, als mit dem gewonnenen Deutsch-Französischen Krieg das Deutsche Reich gegründet wurde, bis dahin, als es nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg daran ging, die Scherben der selbst verursachten Katastrophe wieder zusammenzufegen. Als der so hoffnungsvolle Aufbruch in die industrielle Moderne, mit dem Versprechen persönlichen Wohlergehens wie individueller Freiheit garniert, in einem Desaster endete.

Mahlstrom moderner Kunst

Sollte man sich das anschauen? Unbedingt. Denn diese Schau ist alles andere als eine dröge Aneinanderreihung religiöser Bilder und Motive durch fast fünf Jahrzehnte: Sie erzählt vielmehr davon, wie die religiöse Kunst in den Mahlstrom der beginnenden Moderne und damit auch der modernen Kunst geriet und wie sich generell das Verständnis der Künstler, was sie auf dieser Erde für uns zu erledigen hätten, grundlegend änderte; wie sie sich weiterhin dem Feld des Sakralen widmeten, aber bald nicht mehr als kirchliche Auftragsgehilfen unterwegs sind, sondern sich ihren eigenen Reim auf die komplexe Felder der Auferstehung, des Paradieses, der Hoffnung oder der Apokalypse machten. Und das wird lehrreich und erhellend bebildert, das macht Spaß sich anzuschauen. Es ist dem Kurator Peter Thurmann schlicht zu danken, dass er aus dem Bestand des Hauses sowie mit Hilfe vieler Leihgaben von der Berliner Nationalgalerie über die Lübecker Museen bis zur Sammlung Prinzhorn eine so ergiebige Ausstellung realisiert hat.

Dabei hört bei der Darstellung und Bebilderung des Religiösen, des früher oder später Göttlichen, bis heute schnell der Spaß auf: Welche Abbildungsgebote und -tabus gibt es und wie ist mit ihnen umzugehen?

Jesus am Kreuz betrachten

Immer wieder rückt in der Ausstellung ins Blickfeld, wie der Mensch sich in der Begegnung mit dem tatsächlich oder vermeintlich Göttlichen zu spiegeln und auch zu verorten suchte und wie er selbst als Betrachter, aber auch als Künstler immer mehr Handelnder wird, statt nur ergriffen bis unendlich verloren zuzuschauen, wie das war , als Jesus ans Kreuz genagelt wurde.

Entsprechend wird von Uhdes Mittagstischszene von einem nicht minder erzählerischen Bild des Malers Martin von Feuerstein flankiert. Sein „Selbstporträt mit Christuserscheinung“, das um das Jahr 1914 datiert wird, zeigt den Künstler in edlem Dress am Schreibtisch in seiner gutbürgerlichen Wohnung. Der dort aber nicht sitzt, um zu arbeiten, sondern um uns Betrachter nachdenklich, aber selbstbewusst und direkt anzuschauen, während hinter ihm Jesus seine Hand über seinen Kopf hält: Mag Gott schützend wie inspirierend über den Künstler wachen, so bleibt dieser doch die entscheidende Person.

Symbole der Lebensreform

Wenn sich dann noch zu diesen beiden Bildern als drittes das „Lichtgebet“ von Fidus (so der Künstlername von Hugo Höppener) hinzugesellt, der nackte, Jesus-gleiche Jüngling, der mit weit ausgestreckten Armen das Licht der Welt anbetet, das immer wieder von ihm reproduzierte Symbolbild der Lebensreformbewegung ab den 1910er-Jahren, dann kommen hier drei Strömungen zusammen: der anfangs unsichere, dann aufstrebende Sozialismus derer, die nicht zuletzt immer ungeduldiger die Kirche befragten, was sie ihnen denn an direkter Hilfe zu bieten hätte; der auf Bewahrung setzende bürgerliche Konservatismus und die oft bizarre Allianz all derer, die sich alten und neuen Konventionen zu entziehen suchen, ihr immer unbedingt persönliches Heil dank einer neuen, radikalen Lebensweise verwirklicht wissen wollen, vom Vegetarismus bis zum FKK-Dasein – und die von Anfang an Gott durch eine vage wie mächtige „Natur“ ersetzen.

Davon erzählt die Kieler Ausstellung in wuchtigen Ölgemälden, in kleinen Skulpturen, in filigranen Druckgrafiken. Nicht chronologisch, sondern thematisch: von den Propheten, die ihre Namen verlieren; der Frau, die leidet, tröstet, aber auch verführt und eben von Jesus am Kreuz, einst fassbar und fast erfahrbar und später in fast nahezu abstrakte Kompositionen überführt.

Bis 29. 1., Kunsthalle zu Kiel

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