Berliner Szenen: Frau im Garten
So ruhig hier heute
Der alte Mann im Nachbarschrebergarten kommt jetzt, Anfang November, immer noch jedes Wochenende, obwohl längst das Wasser abgestellt wurde. Er wird kommen, bis der Frost einsetzt, bis ihm die Finger abzubrechen drohen, wenn er in der Erde wühlt. Man könnte meinen, er liebt Pflanzen und Natur, aber ich weiß den wahren Grund, ich habe seine Frau erlebt.
Diese seine Frau ist Quell aller Nichtigkeit, eine Wortblasenmaschine, ein riesiger Plaudersack. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der mit derartiger Penetranz und Ausdauer ununterbrochen, ohne Punkt und Komma, fortwährend und pausenlos in einem Fluss und Tonfall vor sich hin salbadert, blubbert und blablat. Ich habe die Frau summa summarum schon einige Dutzend Stunden reden hören, und es kam nie irgendetwas von Relevanz aus ihrem Mund. Es ging immerzu um Kartoffeln, die diese Woche bei Lidl drei Cent billiger sind als bei Aldi, dass sie gestern ihren Schlüssel auf die Kommode gelegt zu haben glaubte, ihn dann aber doch auf dem Küchentisch fand, und dass des Bäckers Telefon den gleichen Klingelton abspielt wie ihres. Ob man denn das glauben könne!
Ich habe eine Liste geführt, siebzehn Mal habe ich sie das fragen hören seit Mitte Juli. No jo, sagte siebzehn Mal der Mann und grub ein Loch, ein überraschend kleines, wie ich fand. Da passt die doch gar nicht rein, die Frau, in so ein kleines Loch.
Sobald es kalt wird, kommt sie nicht mehr mit in den Garten. Irgendwann stehen wir gemeinsam am Zaun, ich schaue über die verwaisten Nachbargärten und sage gedankenlos vor mich hin: „Ganz schön ruhig hier heute.“ Da schaut er mich kurz an, nickt und antwortet: „Ja, meine Frau ist ja auch nicht da.“
Nach drei bis vier Stunden ist er fertig mit Buddeln, dann geht er. Zum Abschied hebt er wortlos die Hand. Frederic Valin
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