LeserInnenbriefe
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Unbegründete Angst

betr.: „Beteiligung. ‚Streit wird dort gezähmt‘“, taz vom 3. 11. 16

Schade, dass Patrizia Nanz die Kraft von Volksentscheiden unterschätzt und dazu offenbar nicht vollständig informiert ist: Vernünftige Ideen zu Volksentscheiden sehen keine Meinungsabstimmungen wie in Großbritannien zum Brexit vor, sondern verlangen konkrete Gesetzesvorschläge, die verfassungskonform sein müssen. Die Debatte kann dann konkret geführt werden, inklusive Gegenvorschlägen. Natürlich kann eine Parlamentsdebatte differenzierter sein und eher auf einen Kompromiss hinsteuern; doch eine Volksabstimmung ist ein toller Weg, eine Debatte zu starten, der sich ein Parlament verweigert. Zum Beispiel, weil sich dort Interessengruppen durchsetzen.

Angst vor Kampagnen halte ich für unangebracht. Öffentliche Kampagnen zu politischen Themen gibt es. Manchmal mit viel Geld aufgeladen und im Eigeninteresse der Initiatoren, vergleiche etwa zur Erbschaftssteuer. Aber auch von selbstlosen Gruppen der Zivilgesellschaft, die dadurch Fehlentscheidungen verhindern oder wichtige Debatten anstoßen.

Aus dem ganzen Interview lese ich eine Angst vor Demokratie und Abstimmungen heraus: Lieber die Menschen nicht entscheiden lassen. Lieber nur moderiert diskutieren lassen. Der Vorschlag der ausgelosten Bürgerräte ist dann vielleicht nur halbherzig: Es gibt auch Vorschläge, Parlamentarier auszulosen, um so die Vielfalt abzubilden und Interessengruppen auszuschalten, um verschiedene Chancen durch Bildung und Geld auszugleichen. Darin steckt aber erhebliches Misstrauen in die Entscheidungsklugheit der einzelnen Menschen.

STEFAN DIEFENBACH-TROMMER, Marburg

Ermutigt und bestätigt

betr.: „Streit wird dort gezähmt“, taz vom 3. 11. 16

Die Wertschätzung für die Bedeutung der persönlichen Begegnung in diesen Gremien ist eine großartige Ermutigung und Bestätigung auch für all die Quartiers- und Stadtteilbeiräte, die seit vielen Jahren in ihren Nachbarschaften diese besonderen Orte der Begegnung schaffen, in denen sich Menschen jeglicher Herkunft und mit unterschiedlichen Erfahrungen austauschen, eine Meinung bilden, ihre Fähigkeiten und Talente zusammenwirken lassen und politisch handeln. Allein in Hamburg gibt es über 30 dieser Stadtteilbeiräte. Wer Zeit und Lust hat kann noch bis zum 18. 11. die Plakatausstellung des Netzwerks der Hamburger Stadteilbeiräte „Nur mit uns Stadtteilbeiräte: Mitgestalter vor Ort brauchen Absicherung“ im Altonaer Rathaus besichtigen.

SABINE TENGELER, Hamburg

Es braucht Volksentscheide

betr.: „Streit wird dort gezähmt“, taz vom 3. 11. 16

Die Vorschläge von Patrizia Nanz, partizipative Beteiligungsformen auszubauen in allen Ehren, aber die sehr einseitige Darstellung von Volksentscheiden hat mit der bisherigen Praxis in den Bundesländern wenig zu tun. Sie behauptet, starke Interessengruppen würden Volksentscheide kapern. Erstens trifft das auf den weitaus größten Teil der bisherigen Volks- und Bürgerbegehren in den Ländern nicht zu, ganz im Gegenteil: Die meisten Verfahren kommen aus der Mitte der Zivilgesellschaft und am Ende sind alle aufgerufen, abzustimmen, nicht eine Minderheit. Umgedreht müsste man fragen, wie es mit dem Einfluss von Interessengruppen auf Beteiligungsverfahren und vor allem auf die Parlamente aussieht. Ich selbst würde auch ungern über Obergrenzen von Flüchtlingen abstimmen, aber der Vergleich von direkter Demokratie und Diskussionen in sozialen Netzwerken ist geradezu absurd. Volksbegehren dauern mehr als zwei Jahre. Es vergeht viel Zeit, um auf allen Ebenen zu diskutieren.

Für populistische Schnellschüsse ist das Verfahren eher nicht geeignet. Auch die These, dass Volksentscheide die Gesellschaft spalten, ist durch die Praxis in keiner Weise belegt. Wenn überhaupt, legen Volksentscheide eine bereits bestehende Spaltung offen. Daran ist aber nicht das Verfahren schuld. Im Falle des Brexits wurde den Menschen von Teilen der Politik doch jahrelang eingeredet, dass die EU schlecht sei. Auf Bundesebene braucht es Volksentscheide und den Ausbau der partizipativen Bürgerbeteiligung. Die Verfahren müssen miteinander und mit den parlamentarischen Verfahren verknüpft werden, um insgesamt zu besser legitimierten Entscheidungen zu kommen.

FELIX WEHNER, Berlin

Antworten zu einfach

betr.: „Ich weiche keinem Gegner aus“, taz vom 5. 11. 16

Die Argumentation von Oskar Lafontaine trägt einen zu starken ideologischen Charakter, auch wenn die Kritik am fehlenden inhaltlichen Ehrgeiz bei der SPD und den (Bündnis-)Grünen, die sich beide gleichermaßen Angela Merkel anbiedern, ihre Berechtigung verdient. Denn wenn man die Interventionskriege der jüngeren Vergangenheit aufzählt, dann darf man der Vollständigkeit halber auch nicht den Balkan-Konflikt unterschlagen, der erst durch ein militärisches Eingreifen beruhigt wurde. Zudem muss man sich, obwohl das deutsche Steuer- und Abgabenrecht die Last auf den Schultern der Bürger höchst ungerecht verteilt, die Frage stellen dürfen, wieso nicht schon die gegenwärtigen Rekordeinnahmen des Staates dazu ausreichen sollen, um zum Beispiel genügend in ein gutes Bildungswesen zu investieren. Deshalb bleiben die Antworten leider viel zu einfach, zumal ein Begriff wie „Neoliberalismus“ nur mäßig zur Beschreibung der postmodernen Globalisierung taugt, da den Turbokapitalismus eher eine Form des „Neoegoismus“ antreibt!

RASMUS PH. HELT, Hamburg