Kino der Attraktionen

Filmfestival Die Musik hat ihre Vinyl-Renaissance, der Film das Zelluloid: Die Wiener Viennale ließ es analog knistern, von alten Spielfilmen bis zu Filmwochenschauen

Aus den „Noticieros“, einer kubanischen Wochenschau von 1962 Foto: ICAIC/INA

von Silvia Hallensleben

„Der Film wird von einer analogen 35-Millimeter-Kopie gezeigt.“ Vor jeder Vorführung der diesjährigen Retrospektive des Wiener Filmfests Viennale gab es eine solche Ansage. Sie ist der Zirkulation und Variation von Stoffen quer durch die Geschichte des Films (Titel: „Ein zweites Leben“) gewidmet. Schön, dass man hier nicht auf die mittlerweile auch bei historischen Programmen verbreiteten Digital-Cinema-Packages zurückgreift.

Im normalen Kinobetrieb erfährt man über die materielle Basis der jeweiligen Projektion meist nichts. Doch im Österreichischen Filmmuseum, das die Retro mitorganisiert und beherbergt, legt man Wert auf Gewissenhaftigkeit auch im scheinbar beiläufigen Detail.

Wandernde Motive

So kann, wer genug Zeit mitbringt, hier noch bis zum 7. November studieren, wie Motive wandern: Drei „Wuthering Heights“-Adaptionen, etwa von William Wylers, Luis Buñuel und Jacques Rivettes. Kurosawas „Yojimbo“ (1961), der erst in den Händen von Sergio Leone zum Italo-Western („Per un pugno di dollari“, 1964) wird und dann 1990 als „Miller’s Crossing“ von den Coen-Brüdern adaptiert wurde. Oder Lav Diaz’„Norte, the End of History“ (2013), eine philippinische Bearbeitung von Josef von Sternbergs „Crime and Punishment“.

Gemälde auf 16 mm

Trotz ihrer Fülle krankt die Schau aber auch an kuratorischen Beschränkungen. So fehlt der bei solch einem komplexen Thema fast notwendige diskursive Kontext. Und die Filmauswahl (nur Spielfilme männlicher Regisseure) klammert das weite Feld dokumentarischer oder experimenteller Formen unerklärlicherweise gänzlich aus.

So muss das Publikum für spartenübergreifende Ausblicke in andere Sektionen der nun im zwanzigsten Jahr von Hans Hurch geführten Viennale ausweichen. Genannt sei beispielhaft Matthew Lax’ Kurzfilm „Lil’ Tokyo Story“, der eine zentrale Sequenz aus Yasujiros Ozus Klassiker „Tokio Monogatari“ in vier Minuten einstellungsgenau nachstellt und dabei ebenso amüsant wie erhellend mit Sprach- und Gender-Zuordnungen spielt.

Vorbilder in der bildenden Kunst hatte der im Juni verstorbene Filmemacher Peter Hutton, dem eine umfassende Werkschau gewidmet war. Wie die romantischen Gemälde der Hudson River School setzen auch seine poetischen Miniaturen (Stadt-)Landschaften und Natur immer wieder in überirdisch strahlendes Licht. Dabei drehte Hutton meist schwarz-weiß und fast immer auf 16-mm-Film, dessen Porosität die ästhetische Wirkung seiner Arbeiten wesentlich konstituiert: Ein Material, das der taz-Autor Lukas Foerster in einem schönen verbalen Spaziergang durch die Filmformate von Super-8 bis zu 70-mm-Breitwand im Katalog treffend als „Medium der Filmforscher“ bezeichnet.

Dieser Text führt in eine über mehrere Jahre angelegte Sektion der Viennale („Analog Plea­sures“), die sich explizit mit den analogen Formaten des Kinos beschäftigen soll und in ihrem ersten Teil von den verspielten Unbotmäßigkeiten der „Tödlichen Doris“ bis zu einer 70-mm-Projektion von Jacques Tatis „Playtime“ im Gartenbaukino reichte.

Mit solcher Würdigung des Zelluloids markiert das Festival für das bewegte Bild einen Trend, der – ähnlich der Vinyl-Renaissance im Audio – aus der digitalen Eintönigkeit der HD-Schärfe neue Aufmerksamkeit für die sinnlichen Differenzen des Materials schöpft. In Österreich, wo im Sommer mit der Synchro-Film das letzte Kopierwerk für analoge Filme insolvent ging, setzt sich gerade eine große Gruppe von Filmschaffenden mit einer Kampagne ganz praktisch für dessen Umwandlung in eine nicht profitorientierte staatliche Einrichtung ein. Dass es dabei auch darum geht, die Schätze des filmischen Erbes und das technische Wissen für den Umgang mit ihnen durch die Zeiten zu retten, thematisiert Michael Palms Film­essay „Cinema Futures“.

Berichte aus der Zuckerrohr-Schlacht auf Kuba stehen neben Miss-Wahlen

Das rebellische Bild

Dass und wie Digitalisierung sinnvoll sein kann, zeigte ein groß angelegtes Projekt zur Restauration historischer Filmwochenschauen der ICAIC aus Kuba, deren insgesamt 1.493 Ausgaben nach jahrzehntelanger ungeschützter Lagerung mit Unesco-Unterstützung vom französischen „Institut national de l’audiovisuel“ INA restauriert werden. In Wien wurde als Welturaufführung unter dem Titel „Das rebellische Bild“ erstmals eine von Maria Giovanna Vagenas kuratierte Auswahl dieser „Noticieros“ aus den 1960er-Jahren präsentiert. Dabei stehen Berichte aus der Zuckerrohr-Schlacht neben Miss-Wahlen, Reden von Fidel und Raúl neben Weihnachtsimpressionen, die Invasion in der Schweinebucht neben den Ereignissen in Chile.

Besonders interessant, wie sich im Lauf der Dekade die Filmsprache vom konventionell durchkommentierten Wochenschau-Bericht ab 1962 mit dem Direktorat des leidenschaftlichen Filmemachers Santiago Alvarez zu einer fast experimentellen und an Eisensteins Kino der Attraktionen orientierten Montage entwickelte: eine Zeit lang Vorbild für agitatorisches Filmemachen weltweit.

Auch das Ende der „Noticieros“ 1990 steht im globalen Rahmen. Denn mit dem Untergang der DDR kam auch das von dort gestellte ORWO-Filmmaterial nicht mehr in Kuba an. Berichtet wurde das in Wien vom Leiter des kubanischen Filmarchivs selbst, der am 25. Oktober mit dem ersten Flug der gerade wieder eröffneten Direktverbindung aus Havanna angereist war. Im Dezember wird Luciano Castillo die Filme beim Filmfestival in Havanna dem heimischen Publikum zeigen. Auf der Webseite der INA sind sie dauerhaft in einer Datenbank erforschbar.