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Die Götter stehen Schlange

PoetryKate Tempest im Konzert, das ist fast wie damals beim Spoken Word. Love ist ihre Message im Astra Kulturhaus

Die Götter also. Die Götter stecken in uns, sagt Kate Tempest vor ausverkauftem Haus, die Götter sind wir. Die Götter stehen morgens auf und es läuft ihnen die Nase. Die Götter gehen auf eine Doppelschicht und starren an Wände, die Götter stehen erst in der Postfiliale, die den Ansturm der Götter mit Sperrbanderolen regulieren will, dann später im kalten Regen auf dem maroden Pflaster vor dem Astra Kulturhaus in Friedrichshain, wo es keine Banderolen gibt, nicht mal eine Unterteilung der jeweiligen Zugänge (nach ausgedrucktem Ticket, echtem Ticket, gar kein Ticket und Gästeliste).

Große Show ist nicht

Die Götter wundern sich, dass eine 30-jährige Slammerin aus London so viele Leute anzieht, die durch Sicherheitsschleusen und altes Heißluftgebläse hindurch müssen und dann noch mal Schlange stehen. Sie bewundern den kaputten DDR-Charme des Konzertsaals, der die Sicherheitswelt zumindest ästhetisch noch zu brechen imstande ist. Die Götter besehen die anderen Götter, die mit Namen, die ohne Namen, von beiden Fraktionen sind reichlich da. Und schließlich die Göttinnen und Götter, die die Bühne erklimmen: Ein junger Typ mit Dreads, der die E-Drums beklöppelt, ein Mann und eine junge Dame hinter Keyboards, und dann sie selbst, die Göttin des Abends, die Rapperin, Romanautorin, Stimme einer Generation: Kate Tempest.

Die Götter, die Göttinnen. Wer war noch mal Mike Skinner, was macht eigentlich Scroobius Pip? Warum ist er underground, während Kate Tempest locker diese Halle hier füllt? Götter zwischen 30 und 40 starren auf die Bühne, während Tempest die ersten Fäden aufnimmt und im gekonnten Flow anfängt, abzutexten. Wer war noch mal Anne Clark? Gut durchmischt, das Publikum, street-credibility- und Arbeiterklassenanteil allerdings nicht so hoch. Kate Tempest textet noch immer, während sich die Musik langsam und durchaus ansehnlich unter den Flow legt; die Beats sind auf zack, die Synthieklänge klingen modern spacig, insgesamt mit einem Touch von Achtziger-Jahre-Feel.

Große Show ist nicht. Im Hintergrund leuchten vier Vorhänge in einem künstlichen Lila. Tempest bewegt sich vor den Musikern, körperlich eher in einem gehemmten Style, was zur Gesamtanlage passt – zu viel Inhalt für den echten Kick, so nannte das einer der anonymen Götter aus dem Publikum nach dem Konzert. Die Musik gerät immer wieder in den Hintergrund, Refrains gibt es keine, geile Schleifen und Textloops werden nur äußerst sparsam eingesetzt. Es wird klar: Die Message ist die Message, und die Message ist Love. L-O-V-E.

Kate Tempest textet von der Londoner Halbwelt, vom neoliberalen Selfie-Wahnsinn, von der ausgebeuteten, aber rundum bespaßten Generation Brexit. Sie pickt Charaktere heraus, bevor wieder eine Kaskade von Straßenweisheiten und Analysen folgt; hier und da wird es auch einmal streng persönlich.

Alle wollen geliebt werden

Sie textet Dinge wie die von den Göttern, die in uns stecken, die wir sind; sie sagt, dass wir perfekt sind, eben weil wir unperfekt sind, und dass wir alle lieben und geliebt werden wollen. Wir wollen Gerechtigkeit und Frieden, auch wenn dieser nur die Abwesenheit von Terror meint. Kate Tempest textet ihr gesamtes zweites Album herunter, „Let Them Eat Chaos“ heißt es. Gelegentlich brandet Jubel auf, wenn sie einen besonders nachdrücklichen und rapiden Flow exerziert. Es ist fast wie damals beim Spoken Word.

Nach einer guten Stunde und einer improvisierten Zugabe ist es vorbei. Die Götter stellen sich wieder in die Schlangen vor den Ausgabeschaltern, bevor es zurück geht in die Novemberwelt. Über der Warschauer Brücke leuchtet die Anzeigetafel der Mercedes-Benz-Arena ihr kaltes Licht in die Nacht.

René Hamann

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