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Angriff derPapierfischchen

PapierKULTUR Letzte Laudatio auf die materielle Grundlage der taz

von Burkhard Strassmann

Lob 1: Man kann Fisch auf dem Markt in Zeitungspapier einwickeln und nach Hause tragen.

Lob 2: Man kann Fisch zum Grillen in nasses Zeitungspapier einwickeln.

Lob 3: Man kann Fish & Chips in Zeitungspapier eingerollt essen. Dabei wird überschüssiges Öl aufgesaugt. Da der Kontakt mit Druckerschwärze selbst in Großbritannien mittlerweile kritisch gesehen wird, arbeitet man heute oft mit Fake-Zeitungspapier. Dem fehlt allerdings jede Saugkraft.

Lob 4: Billig und effektiv ist das Fensterputzen mit Zeitungspapier.

Lob 5: Man kann Zeitungspapier in nasse Schuhe stecken.

Lob 6: Zahllos sind Bastelanleitungen, nach denen man aus Zeitungspapier etwas Schönes machen kann.

Lob 7: Man kann Blumen in Zeitungspapier pressen und trocknen.

Lob 8: Rennradler und Obdachlose stopfen sich bei Kälte isolierendes Zeitungspapier unter die Kleidung.

Lob 9: Zeitungspapier kann, vielleicht nicht ganz zufrieden stellend, aber doch funktional, Toilettenpapier ersetzen.

Burkhard Straßmann

Geboren 1953 in Wuppertal, arbeitete von 1989 bis 2000 bei der taz.bremen (Kürzel: „bus“). Danach schrieb er als freier Autor, unter anderem für Die Zeit, wo er seit 2015 als Redakteur arbeitet.

Lob 10: Auf Zeitungspapier findet man manchmal unterhaltsame, manchmal informative gedruckte Texte.

Kann sein, dass dies das letzte Mal ist, dass jemandem zum Thema „Die taz hat Geburtstag“ das Unterthema „Zeitungspapier“ einfällt. Der Grund: Ctenolepisma longicaudata. Doch davon später.

Lob 1 bis Lob 9 treffen auf Laptops, Tablets und elektronische Reader eindeutig nicht zu. Ebenso wenig kann man, wenn man sich über einen Absatz geärgert hat, ein Digitalgerät ohne großen Aufwand zerknüllen, und wenn man fertig ist mit dem Lesen, wird das abschließende Zielwerfen in den nächsten Papierkorb bei elektronischen Leseapparaten auf Dauer zu teuer. Und schon gar nicht kann man ein geheimes Passwort, auf den Rand eines Readers gekritzelt und dann im Gehirn gespeichert, verschlucken.

Aus all dem kann man erkennen, dass das verbreitete Totenglockenläuten und Unken über die traurige Zukunft des Zeitungspapiers sich auf eine falsche Basis stützen: als wäre Zeitungspapier ausgerechnet zum Lesen von unterhaltsamen oder informativen Texten erfunden worden. Oder spielen Sie einmal Schere-Stein-Papier mit einem Laptop! Oder reißen Sie einen tollen Text aus dem Kindle und nageln Sie ihn an die Wand! Oder verfassen Sie ein Zehn-Punkte-Tablet oder gar ein Eckpunkte-Netbook!

Es ist unübersehbar, dass Zeitungspapier in unserer Kultur eine bedeutsame Rolle spielt, vom Essen über die Verdauung zum Spielen und Putzen. Aufgrund seiner sprichwörtlichen Geduld ist Papier ja ohnehin ein Eckpfosten unserer Leitkultur, Vorbild für Junge, Übereifrige und Heißblütige.

Zeitungspapier stiftet darüber hinaus Wärme und schafft Atmosphäre: Regelmäßige Befragungen der Leser einer Hamburger Wochenzeitung ergeben zuverlässig, dass die Mehrheit der Leser sich am Zeitungspapierrascheln erfreut. An der einzigartigen Haptik und am spezifischen Duft. (Kenner behaupten gar, die Süddeutsche vom Guardian mit der Nase unterscheiden zu können.)

Papiergebirge samstags im Bett duften, wärmen, rascheln und trösten. Selbst wenn sich nichts Taugliches im Blatt findet. Das ganz große Rätselraten um die Geheimnisse der Leser-Blatt-Bindung ist zu Ende: Es sind weder Texte noch Fotos, keine Grafiken und auch keine Karikaturen, die den Abonnenten bei der Stange halten – es ist das Gesamtkunstwerk Zeitung.

Burkhard Straßmann, Redakteur der taz.Bremen von 1989 bis 2000

Doch hat recht, wer heute vom Zeitungssterben redet. Die Gefahr geht von Ctenolepisma longicaudata aus, dem Papierfischchen, einer mit dem Silberfischchen verwandten über 300 Millionen Jahre alten Insektenart. Das Papierfischchen lebt in warmen Ländern unter der Rinde von Bäumen. Allerdings behagt ihm moderne Architektur mit gut isolierten, immer warmen und trockenen Häusern ebenfalls sehr.

In den Niederlanden gelten Papierfischchen seit Jahren als ernste Plage, der gegenüber die Behörden ziemlich hilflos sind. In Deutschland ist dieses Insekt noch weitgehend unbekannt, wahrscheinlich, da es dem bekannten Silberfischchen ähnelt und mit ihm verwechselt wird. Doch im Gegensatz zu Letzterem frisst es mit Vorliebe Papier, am liebsten älteres Papier, Fotos, Alben, Archivalien, Bilder, Kartonagen. In Hamburger Archiven trat das Papierfischchen erstmals 2007 auf, in Berlin beobachten es Schädlingsbekämpfer seit drei Jahren argwöhnisch.

Schicht um Schicht „mäht“ die langschwänzige Ctenolepisma longicaudata Papier, bis es zerfällt. Einmal in ein Gebäude eingewandert, ist das Insekt kaum mehr loszuwerden. Immerhin kann das Papierfischchen bis zu acht Jahre ohne jede Nahrung leben, Wasser holt es sich aus der Luft. Die Invasion droht von der niederländischen Grenze her. Trojanische Pferde sind Kartons von Lebensmittelketten, Möbelunternehmen oder Herstellern von Papier oder Pappe. Wenn diese bis zu etwa 15 mm langen Tiere die Grenze überwunden haben, sehen auch wir alt aus.

Eben darum kann es sein, dass in zehn Jahren, wenn wieder einmal „Die taz hat Geburtstag“ begangen wird, das Letzte, was einem dazu einfällt, „Zeitungspapier“ ist.

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