: „Keine Ruhe. Bis zum Schluss“
Mobilmachung Mit dem mehrmonatigen Schwerpunkt „Uncertain States“ will die Berliner Akademie der Künste auf die unsichere Weltlage reagieren. Zum Auftakt gibt es eine Kunstausstellung
von Ingo Arend
„Putin befiehlt Angehörige aller Diplomaten nach Hause.“ Als vor ein paar Tagen diese Meldung über die Newsticker lief, tauchte auf allen Kanälen sofort die Formel von der „globalen Bedrohung“ auf. Bis jetzt ist der dritte Weltkrieg, den manche angesichts der Lage in Syrien heraufdämmern sahen, noch nicht eingetreten. Für möglich gehalten haben ihn für den Bruchteil einer Sekunde wohl viele. Der kollektive Schreckmoment verdeutlichte, wie labil die Weltlage derzeit ist.
„Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen“ ist insofern die Ausstellung der Stunde. Denn sie greift ein Moment der Verunsicherung auf, wie es derart flächendeckend lange nicht mehr zu spüren war. Wer hat sich angesichts der Kumulation weltweiter Krisen von der Massenflucht über den Terror bis zum Staatsversagen nicht schon einmal gefühlt wie Nasan Tur in seinem Video „In my Pants“: Gut vier Minuten steht der Berliner Künstler regungslos vor einer weißen Wand, während sich seine Jeans im Schritt langsam blau färbt: Vor Angst macht er sich in die Hose.
„Abgereist“, die lapidare Notiz von Heinrich Mann
Ein Vorteil der 35 Positionen, die ein Kuratorenteam um den Akademie-Programmbeauftragten Johannes Odenthal versammelt hat: Sie verkürzt den Krisenzustand nicht auf aktuelle Schreckensbilder, sondern schaltet einen Moment historischer Reflexion dazwischen. Hinter Mona Hatoums Sinnbild für die Conditio humana in Ausnahmezuständen zu Beginn des Parcours – man sieht fünf menschengroße Metallkäfige, in denen ein rotes Herz aus Glas gefangen liegt – durchschreitet der Besucher ein aus Beständen des Akademiearchivs bestücktes Kabinett.
Seine Ingredienzien erinnern ihn daran, dass alles schon einmal passierte: Von der Notiz „Abgereist“, mit der Heinrich Mann den Tag seiner Flucht aus Deutschland lapidar in seinem kleinen Taschenkalender vermerkte, über den Reisepass Walter Benjamins bis zu dem Revolver, den Kurt Tucholsky im Exil bei sich trug, um sich selbst umbringen zu können.
Das Problem der Ausstellung „Uncertain States“ besteht aber darin, dass sie auf zu viele Konfliktzonen gleichzeitig aufmerksam machen will – in der sattsam bekannten Mischung aus Entsetzen, Trauer und Warnung, mit der die zeitgenössische politische Ästhetik gern arbeitet. Nezaket Ekici etwa lässt in der Videoinstallation „Tooth for Tooth“ acht Performerinnen ihre Wut über die fortwährende Gewalt gegen Frauen in Türkei herausschreien. Aslan Gaisumov erinnert mit 50 verbeulten Hausnummernschildern an die Zerstörungen in seiner tschetschenischen Heimat. Natürlich darf auch der Kolonialismus nicht fehlen: In Reza Arameshs Fotoarbeit „Triptychon Action 117“ sieht man einen Flüchtling mit nacktem Oberkörper auf dem Boden des Spiegelsaals von Versailles sitzen: ebenso gebannt wie überwältigt von der Macht und der Schönheit der ehemaligen Weltmacht.
Es fehlt die Sichtbarkeitder politischen Erosion
Etwas mehr Fokussierung hätte der Ausstellung gutgetan. Zudem vermisst man die künstlerische Bearbeitung des beunruhigenden Kippmoments, der in ihrem Titel steckt: „Uncertain States“ ruft ja nicht nur das Individuum auf, das in unsicheren Zeiten lebt wie die „Clandestins“, die Flüchtlinge über das Mittelmeer in Isaac Juliens Videoinstallation „Small Boats“.
Von der politischen Erosion Frankreichs bis zum buchstäblichen Zerfall Syriens: Was es heißt, dass Staatlichkeit an sich zerfällt, dafür findet man in der Schau kein Beispiel. Es sei denn, man deutet das Bild der Ruinenstadt Ani im türkisch-armenischen Grenzgebiet in Francis Alÿs’ Video „The Silence of Ani“ als Metapher dafür. Dennoch ist das Projekt ein überfälliger Versuch zum richtigen Zeitpunkt.
Zu dem Programm Uncertain States gehört ein umfangreicher Veranstaltungskalender. Am 29. und 30. 10. um 19 Uhr zeigt die Berliner Choreografin Modjgan Hashemian die Lecture Performance in_visible zum Thema Frauen in Gefangenschaft.
Am 5. und 6. 11. (20 Uhr) ist „Flee by Night“, eine Produktion aus Hongkong, zu sehen. Ein Kampfkunstmeister der kaiserlichen Garde sieht sich einer lebensbedrohlichen Intrige ausgesetzt und muss eine existenzielle Entscheidung treffen: Soll er seine Überzeugungen verraten, um bleiben zu können? Oder seiner glanzvollen Stellung entsagen, alles zurücklassen und fliehen?
Am 5. Dezember um 17 Uhr gibt es ein Tondokument, ein Rundfunkgespräch mit Theodor W. Adorno und Erika Mann über die Rückkehr aus dem Exil.
Er könne einfach nicht verstehen, dass die Museen einfach so weitermachten wie bisher, hatte Martin Roth, Direktor des Londoner Victoria and Albert Museums, kürzlich seinen Kollegen in einer Interviewserie ins Stammbuch geschrieben und völlig überraschend seinen Abschied von dem Flaggschiff der britischen Kunst verkündet. Angesichts des wachsenden Drucks von Nationalisierung, Populismus und Minderheitenhass müsse die Kultur jetzt vor allem Politik machen.
„Uncertain States“ setzt dagegen. Die Ausstellung, Teil eines der größten Schwerpunkte der Akademie seit Langem, ist eine Art Generalmobilmachung in Sachen Kultur. In einer großen Kraftanstrengung bietet sie alle reflexiven, visuellen, diskursiven und performativen Kräfte der Künste auf, um alle Facetten, Ambivalenzen und Auswege aus dem „Uncertain State of the World“ auszuloten. Kein Exit aus der Kultur, lautet ihre Devise, sondern mehr Kultur gegen Gewalt und Fanatismus. Selbst wenn die keine einfachen Lösungen bieten kann.
Wie man an Nasan Turs beeindruckender Arbeit „First Shot“ sehen kann. Sein knapp einstündiges Video zeigt Menschen in Großaufnahme auf einer Schießanlage, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer Waffe schießen. In Zeitlupe entrollt sich der spannungsreiche Moment kurz vor und nach dem ersten Schuss. An den Gesichtern und Körperreaktionen wird die Bandbreite der Gefühle zwischen Angst und Euphorie sichtbar, mit der sie auf den Spannungszustand reagieren.
Bisweilen besteht der Erkenntnisgewinn nur darin, die eigene Verunsicherung erfahrbar zu machen. „The Fact of Matter“ – der Titel des „choreografischen Objekts“ des ehemaligen Frankfurter Ballettdirektors William Forsythe ist mehr nur als der obligatorische Tribut an das Partizipationsdesiderat von Ausstellungen. Wer einen der Plastikringe greift, um sich mit Hand und Fuß durch den Dschungel der von der Decke baumelnden Polyesterbänder zu hangeln, bemerkt, wie viel Koordinationsleistung dafür nötig ist. Und jede Bewegung ruft neue Instabilitäten hervor. „Ruhe gibt es nicht, bis zum Schluss“, hat der Emigrant Klaus Mann einmal sein Schicksal in einer Zeit beschrieben, der unsere Welt immer stärker zu ähneln beginnt.
Bis 15 Januar, Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, Mo.–So. 10–22 Uhr
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