piwik no script img

Berliner SzenenBerlin Alexanderplatz

Zum Kotzen hier

Ich möchte ihm zu Hilfe eilen. Ihm meinen Arm anbieten

Ich schließe mein Fahrrad am Alexanderplatz ab, als ich ihn aus dem Bahnhof kommen sehe: einen mageren, alten Mann mit weißem Vollbart. Er stützt sich auf einen Einkaufs­trolley. Von den letzten Strahlen der Sonne geblendet, blinzelt der klapprige Greis in die Runde.

Sofort ergreift mich ein namenloses Erbarmen mit dem Methusalem, der sicher ein entbehrungs- und ­arbeitsreiches Leben hinter sich hat, das er mit der Bescheidenheit seiner Generation still ertrug. Ich kann sein Elend förmlich vor meinem geistigen Auge sehen: Das Tempo der Großstadt überfordert ihn. Die Treppe hinauf zu einer bescheidenen Dachwohnung in einem zugigen Altbau mit Ofenheizung und Etagenklo schafft er nur noch mit langen Pausen. Seine Kinder laden ihn nur zu Weihnachten ein, weil sie sich vor den Nachbarn wegen seines ärmlichen Aussehens schämen. Nein, wahrscheinlich hat er gar keine Kinder. Ich möchte ihm zu Hilfe eilen. Ihm meinen Arm anbieten. Ihn über die nächste Kreuzung führen und ihm in einem guten Restaurant eine stärkende Mahlzeit zu essen geben, die er bestimmt lange entbehren musste. Wie sein Blick suchend über die Baustelle vor dem Bahnhof tastet – sicher erscheinen ihm vor seinen kraftlos ­gewordenen Augen nun Gebäude, die er mit einer glücklichen Jugend verbindet, doch die dann vom Zweiten Weltkrieg oder der DDR gnadenlos zerstört wurden.

Nun öffnet der würdige Greis seinen zahnlosen Mund, und ich erzittere förmlich in der Erwartung eines leidvollen Schreis der Bitterkeit, den niemand diesem Unglücklichen verdenken könnte. Laut und unüberhörbar sagt der alte Mann zu niemandem im Besonderen: „Mann, det is ja zum Kotzen hier!“ (Gemeint ist wohl die Baustelle vor dem Bahnhof.)

Dann zieht er zügig und mit einer vom Weinbrand tiefer gelegten Stimme laut und derb vor sich hin schimpfend weiter. Und ich beschließe, Passanten künftig weniger Beachtung zu schenken. Tilman Baumgärtel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen