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Archiv-Artikel

Das Kind Europas

HEIMAT Hanno Falkenberg wurde im Maschinenraum der EU geboren und zum Europäer ausgebildet. Jetzt muss er sich fragen: Will er dahin zurück?

Seine Freunde schrieben ein Manifest. Er hörte zu und kochte. Er muss jetzt nach seinem Platz suchen

AUS BRÜSSEL UND BERLIN LUISE STROTHMANN

Wenn am Montag drei Männer das Rathaus von Oslo betreten, ein Backsteingebäude, das aussieht wie das Ergebnis einer Liebesnacht der Kathedrale Notre Dame mit einer Fabrikhalle, wenn sie dort in ihren Anzügen die Gänge hinabgehen, um die wichtigste politische Auszeichnung der Welt entgegenzunehmen, den Friedensnobelpreis, für eine Idee, die nicht ihre war – dann wird Hanno Falkenberg in einer Wohngemeinschaft in London sitzen und sich fragen, was er nun anfangen soll mit diesem Europa. Mit dem Erbe der Väter, mit dem er sich herumschlagen muss.

Er hat gerade seine Abschlussarbeit an der Freien Universität in Berlin abgegeben, Volkswirtschaftslehre. Dann hat er sich in den Flieger gesetzt, zu Freunden nach London, ehemaligen Mitschülern der Europäischen Schule in Brüssel. Irgendwann in diesen Tagen wird Hanno Falkenberg wohl jemand fragen, was er jetzt, mit 26 Jahren, vorhat mit seinem Leben, nach Brüssel, Genf, Brüssel, Mexiko, Berlin, Maastricht, Kanada, Maastricht, Berlin, Paris, Berlin.

Und er wird sagen: Ich weiß nicht. Brüssel vielleicht.

Es ist nämlich so, dass Brüssel Hanno Falkenbergs Heimatstadt ist und er selbst ein Europäer in der dritten Generation. Nicht so einer wie die meisten der Menschen, die in einem der 27 Länder des Staatenverbundes namens Europäische Union leben. Leute, für die sich das durch einen Eintrag im Reisepass bemerkbar macht, bei Wahlen, deren Abstand man sich nicht merken kann, und in Fernsehnachrichten über die Eurokrise.

Ein Labor für Identität

Hanno Falkenberg ist im Maschinenraum Europas aufgewachsen. Dort, wo Gesetze gemacht werden, die Richtlinien heißen und das Leben einer halben Milliarde Menschen bestimmen. Sein Großvater war einer der ersten deutschen Beamten, die nach Brüssel gingen, 1958 war das. Sein Vater ist einer der höchstrangigen Eurokraten, Generaldirektor für Umwelt der EU-Kommission, in Deutschland wäre das der Staatssekretär im Umweltministerium. Hanno Falkenberg ist also Europäer, ob er will oder nicht.

Er vergräbt die Schuhe tiefer im grauen Sand einer Berliner Kneipe. Zimmerpalmen, Reggae, ein bisschen weite Welt.

Wo kommst du her, Hanno?

„Ich sag meist: aus Brüssel. Oder: aus einem kleinen Ort bei Brüssel. Das klingt weniger nach EU-Blase. Und wenn mich die Leute fragen, warum, sage ich: Weil meine Großeltern dorthin gezogen sind.“

Die Familie von Hanno Falkenbergs Großvater, er hieß Karl-Friedrich, lebte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges auf einem Gut in der Nähe von Stettin. Dass er schon einmal einen Ort verlassen hatte, der für ihn Zuhause war, das machte es später einfacher, wieder zu gehen. Er bekommt eine Stelle im Ernährungsministerium in Bonn, an den Wochenenden arbeitet er auf seinem kleinen Hof in der Nähe der Stadt.

Nachdem 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet wurde, bewirbt sich Karl-Friedrich Falkenberg um eine Stelle in der Verwaltung. Ob er sich das gut überlegt habe, fragt ein Bonner Vorgesetzter. Der Laden überlebe doch keine zwei Jahre.

Es ist die Zeit, in der einige der Fakten, die das Nobelpreiskomitee in seiner Begründung für die Preisvergabe erwähnt, noch schmerzlich präsent sind: In 70 Jahren hatten Deutschland und Frankreich drei Kriege geführt. Die Länder Westeuropas wirtschaftlich zu verflechten war ein pragmatischer Weg zur Stabilisierung des Friedens. Die Friedens- und die Wohlstandssehnsucht wurden zu ersten Triebfedern der Einigung.

Karl-Friedrich Falkenbergs vier Kinder wachsen in Brüssel auf. Es ist noch ein kleines Europa, in dem sich der Kommissionspräsident bei der Weihnachtsfeier als Nikolaus verkleidet und den Söhnen und Töchtern der Beamten Geschenke überreicht. Aber man hat schon eine Schule gegründet für die Kinder der Angestellten der Institutionen; Europäische Schule heißt sie. Ein Labor, in dem europäische Identität entstehen soll.

Von „trennenden Vorurteilen unbelastet“ und „ohne aufzuhören, ihr eigenes Land mit Liebe und Stolz zu betrachten“, sollen sie geschult werden, „die Arbeit ihrer Väter vor ihnen zu vollenden und zu verfestigen, um ein vereintes und blühendes Europa entstehen zu lassen“, so steht es in den Leitworten der Schule.

Man könnte sagen, dass das auf den ersten Blick funktioniert hat bei den Falkenbergs.

Karl Falkenberg hatte an diesem Abend noch im Berlaymont-Gebäude zu tun, dem geschwungenen Glas-Stahl-Bau, der im Hintergrund von Europaberichten in den Nachrichten eingeblendet wird. Jetzt sitzt er in einer Bar um die Ecke, dunkles Holz und schwarzes Leder, im Schrank steht eine „Encyclopedia of Universal Knowledge“. Um Karl Falkenbergs Hals baumelt der EU-Hausausweis.

Warum sind Sie Ihrem Vater in die Europäische Kommission gefolgt, Herr Falkenberg?

„Ich wollte Journalist werden und hospitierte also bei den Bremer Nachrichten. Das war sterbenslangweilig. Da hat mein Vater gefragt: Warum machst du nicht ein Praktikum hier bei der Kommission? Ich dachte: Schlimmer als bei den Bremer Nachrichten kann es nicht sein.“

Karl Falkenberg hat mal für Jacques Delors gearbeitet, den ehemaligen Kommissionspräsidenten, von dem im Moment einige sagen, er sei derjenige, der den Friedensnobelpreis bekommen müsste. Statt dieses ganzen abstrakten Gebildes, für dessen Vertretung man am Montag die drei Männer ins Osloer Backsteinrathaus schickt: Herman Van Rompuy, 65, Präsident des Europäischen Rates, Martin Schulz, 56, Präsident des Europäischen Parlaments, und José Manuel Barroso, 56, Präsident der Europäischen Kommission.

Jacques Delors war stolz auf Falkenberg, den Europäer der zweiten Generation; für ihn klang das nach Zugehörigkeit, nicht nach Klüngelei. Delors sagte: „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt.“ Und: „Europa braucht eine Seele.“ Es wurde klar, dass eine Wirtschaftsunion, erdacht, um Frieden zu sichern, nicht genügen würde, um die eigenen Kinder von dem Projekt Europa zu überzeugen.

Hanno Falkenberg sagt, ein Grund, warum er VWL studiert hat, war, endlich Diskussionen mit seinem Vater zu gewinnen. Nach dem Abitur war er zuerst nach Berlin gegangen, wo er sich fremd fühlte mit seinem Deutsch, in das er französische Worte streute. Er zog dann nach Maastricht, nicht so weit von Brüssel. Unter der Woche las er in Seminaren Texte über EU-Agrarsubventionen, Landwirtschaftspolitik – das Feld, auf dem sein Großvater gearbeitet hatte. Und über Freihandelsabkommen, die sein Vater verhandelt hatte, ihre Auswirkungen auf Entwicklungsländer. Am Wochenende fuhr er nach Hause und fragte seinen Vater, was er da eigentlich mache. Sie diskutierten. Dann nahm Hanno Falkenberg den Zug zurück zu den kritischen Mitstudenten. Es sei die Zeit gewesen, sagt er, in der er sein Grundvertrauen zum ersten Mal infrage gestellt habe – das Vertrauen in die europäischen Institutionen, in seinen Vater.

Als würde er fernsehen

Hanno Falkenberg hat darüber nachgedacht, ob es schön wäre, die Familientradition fortzuführen. Ob seine Eltern enttäuscht wären, wenn er sagt, er eröffnet ein Restaurant in Cottbus. Manchmal sehnt er sich nach ganz einfachen Dingen: aus einem kleinen Ort zu kommen, sich lokalpolitisch zu engagieren, Nachhilfe an Problemschulen oder so etwas, und dabei irgendwann zu beginnen, über die größeren Zusammenhänge nachzudenken, die nationale Ebene, später die europäische.

„Meine Kindheit in Belgien bestand darin, außen zu stehen und zuzuschauen. Es ist ein bisschen wie Fernsehen gucken. Ich war nicht unglücklich, der Film war nicht schlecht, auch sehr lustig. Aber ich habe zugeschaut.“

Er lacht, als er das sagt, in der Sandbodenkneipe in Berlin.

Wenn seine Großeltern früher sonntagnachmittags zu Besuch kamen und sein Großvater mit seinem Vater über Politik diskutierte, über den Zustand der SPD, der Kommission, stand Hanno Falkenberg daneben, machte Espresso in der Maschine, und hörte zu.

Als seine Freunde vor einem Jahr, als man schon von der größten Krise Europas sprach, ein Manifest zu schreiben beschlossen, eine Forderung nach Erneuerung Europas jenseits des Marktes, da stand Hanno Falkenberg daneben, bekochte sie und hörte zu.

Er ist sich noch nicht sicher, wo sein Platz ist, in diesem Europa der alten Männer in Anzügen. Seine Eltern und Großeltern hatten große Erzählungen zur Verfügung: Europa als Schicksalsgemeinschaft – den Frieden und den Aufbau von Wohlstand, die Abgrenzung nach Osten, später die Vereinigung des Kontinents nach dem Ende des Kalten Krieges, noch mehr Wohlstand.

Hanno Falkenberg gehört zu denen, für die ein Europa als Lebensgemeinschaft selbstverständlich geworden ist; fünf europäische Sprachen zu sprechen, in drei europäischen Ländern zu studieren, von Berlin und London aus nach Arbeit in Paris oder Brüssel zu suchen. Dieses alltägliche Europa ist ein unsichtbares. Es wird erst wieder spürbar, wenn es jemand infrage stellt.