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Gesellschaft am Abgrund

Saisonauftakt Eine Wohlstandsgesellschaft lässt Karin Beier im permanent um sich selbst drehenden Glaskasten an ihren uferlosen Ängsten zugrunde gehen: in „Hysteria. Gespenster der Freiheit“ nach Motiven von Luis Buñuel am Hamburger Schauspielhaus

von Robert Matthies

Alles soll genau nach Plan laufen an diesem Abend. Nach Jahren in Asien wagen Robert und die hochschwangere Linda (Yorck Dippe und Lulia Wieninger) gemeinsam mit ihrer pubertierenden Tochter Lucy (Josefine Israel) in der längst fremd gewordenen Heimat den Neuanfang. In einer Einöde irgendwo in Deutschland, weit weg vom nächsten Nachbarn, haben sie sich einen schicken Glaskasten-Bungalow bauen lassen, mit bodentiefen Fenstern ringsum und großem Pool im Garten.

Nun haben sie Familie, Freunde und Kollegen zur Housewarming-Party eingeladen. Penibel bereitet sich das Paar auf die Ankunft der Gäste vor. Ungelenk werden Weinflaschen entkorkt, Gläser poliert, Teller auf der langen Tafel zurecht gerückt. Sofort zückt der steife Hausherr zwanghaft sein Taschentuch, um noch den kleinsten Fettfleck von der Fensterscheibe zu wischen. Kein Makel soll den sagenhaft weiten Blick nach draußen, die Hoffnung aufs Gelingen des Neuanfangs trüben.

Aber dass alles gehörig aus den Fugen geraten wird, das wird in Karin Beiers Eröffnungsinszenierung am Hamburger Schauspielhaus natürlich schon in den ersten Minuten klar. „Hysteria. Gespenster der Freiheit“ heißt der knapp zweistündige Abend, für den die Intendantin und ihr Dramaturg Christian Tschirner Motive des spanischen Filmemachers Luis Buñuel mit dem misanthropisch-apokalyptischen Kulturpessimismus des Rumänen Emil M. Cioran und allem, was der Verschwörungstheoriemarkt heute so hergibt, verwebt haben.

Wie der titelgebende Film „Das Gespenst der Freiheit“ ist das Stück vor allem eine Abfolge surrealer Szenen; wie in „Der diskrete Charme der Bourgeoise“ oszilliert es zwischen greller, Slapstick-hafter Komödie und blankem Horror; wie in „Der Würgeengel“ schließt sich die Gesellschaft ein, werden alle immer nervöser und hysterischer, gehen irgendwann auch Nahrung und Wasser aus: eine postmoderne Robinsonade, in der schließlich niemand mehr zwischen Natur und Zivilisation, Realität und (Alb-)Traum, Vernunft und Wahnsinn unterscheiden kann.

Dafür fährt Beier ihre ganze Theatertrickkiste auf: Sounddesign und Musik (Dominik Wedemann und Jörg Gollasch), Licht (Annette ter Meulen), Bühne und Kostüme (Johannes Schütz), all das passt stimmig zusammen und erzeugt eine beeindruckende Intensität.

Kaum ein Laut dringt etwa in den ersten Minuten aus dem Glaskasten, nur die präzise gespielte Gestik und Mimik verraten die Anspannung der Gastgeber. Durchbrochen wird die von friedlichem Vogelgezwitscher und einem bedrohlich dumpfen Grollen von irgendwo da draußen untermalte Stille nur für Sekunden, wenn Lindas Stimme aus dem Off ertönt: „Warum fühle ich diese sonderbare Unruhe in mir, ist es Furcht vor der Zukunft, der Existenz oder ist es Angst vor der eigenen Angst?“ Bald spricht sie die böse Vorahnung aus: „Das wird ein seltsames Ende nehmen.“

Nach und nach trudeln die Gäste ein, irren auf der Suche nach dem Eingang ums Haus. Sie hört man deutlich und merkt schnell: Hier ist niemand dem anderen wohlgesonnen. Irgendwann taucht ein ungeladener Gast auf, der zersauste Nachbar Schacke (Michael Wittenborn), und heizt die tief sitzenden Ängsten voreinander und die Verachtung füreinander mit seiner uferlosen Paranoia an: nicht ungefährlich sei es hier, raunt er, im Wald hause eine mysteriöse Sekte, in einer Tierseuchenanstalt werde mit biologischen Kampfstoffen experimentiert, immerzu werde man beobachtet. Ängstlich suchend blickt die Partygesellschaft ins Dunkel draußen.

Ringsum löst der Alkohol allmählich die angestrengte Stimmung, bekommt die sorgsam polierte Oberfläche immer mehr Flecken und Kratzer. Stück für Stück bröckelt die Fassade und der Mikrokosmos beginnt, auf permanent drehender Bühne im angstvollen Taumel um sich selbst zu kreisen. Nur bruchstückhaft erzählt Beier eine minimale Handlung, stellt vielmehr soziale und individuelle Aggregatzustände aus: Erhitzen und Verflüssigen, Abkühlen und Verfestigen. Immer wieder friert das Geschehen buchstäblich ein, erstarren die SchauspielerInnen in ihren Bewegungen.

Akribisch treibt Beier ihr Ensemble in den Exzess. Immer weiter ins Amorphe drängt die kollektive Hysterie, immer unklarer werden die Handlungsstränge, immer kontur- und ichloser die Charaktere, immer brutaler und körperlicher die Beziehungen untereinander. In rasanter Folge gibt Beier Einblicke in immer neue beklemmende Tableaus. Und immer mehr verliert schließlich auch der Zuschauer den Über- und Durchblick. Kein Halt lässt sich mehr finden im unerbittlich in die Katastrophe steuernden Fieberwahn der Angst vor allem, jedem und sich selbst. Jedes Zeichen nur noch ein böses Omen.

Und immer mehr kreist auch Beiers Inszenierung konsequent um sich selbst, beginnt in der letzten halben Stunde leerzulaufen und in Paralyse zu erstarren: kein Fortschritt, keine Entwicklung mehr, nur noch Exzess im Dauerzustand, Ausnahme als Regel. Minutenlang schleichen am Ende im längst schrecklich zugerichteten Glaskasten alle in Zeitlupe umeinander herum, richten Waffen aufeinander, halten sich in Schach, richten sich gegenseitig. Nur noch Horror bleibt, Blut an den Fenstern. Eine Rest-Gesellschaft, vollständig auf ihren Gewaltkern reduziert, an ihr Ende gekommen. Keine Moral, keine Hoffnung, keine Möglichkeit zur Synthese steckt mehr in dieser Geschichte.

Und ohne Antwort, ohne Gegenvorschlag lässt Beier den Abend im prompten Dunkel enden. Nur eine sonderbare Unruhe bleibt: tatsächlich ein seltsamer Abend.

Nächste Aufführungen: 1., 9. + 23. Oktober, Hamburg, Schauspielhaus

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