: „Wir wissen, was sie fühlen“
In der philippinischen Hauptstadt Manila machen Straßenkinder im Rahmen eines Projekts erstmals eine Studie über Kinderprostitution, um mit den Ergebnissen die Politik zur Einhaltung längst bestehender Kinderschutzgesetze zu drängen
Aus Manila RALF WILLINGER
Stanton Snyder hat seinen Vater, vermutlich einen Amerikaner, nie gesehen. Seine Mutter starb vor acht Jahren als Snyder 20 war, sein älterer Bruder sitzt im Knast. Als Kind lebte er mit seiner Familie in Manila auf der Straße, sammelte Müll und schlug sich mit Diebstählen durch. Mit 13 wurde er von der Straße aufgelesen und zu „Bahay Tuluyan“ (Willkommen zu Hause), einem Straßenkinderprojekt, gebracht. Das war 1989.
Heute arbeitet Snyder selbst dort. Die Straßenkinder, die er unterrichtet, schauen mit leuchtenden Augen zu ihm auf. Wenn er mit einem Kleinbus die Kinder einsammelt, um mit ihnen im Park zu spielen, leuchten auch seine Augen. Er weiß, wie sehr die Kinder Liebe, Aufmerksamkeit und Bildung brauchen. 16.000 Kinder leben allein in Manilas Zentrum auf der Straße. „Wir wissen, was diese Kinder fühlen – aus eigener Erfahrung“, sagt Snyder über sich und seine Kollegen, unter denen viele Exstraßenkinder sind.
Zurzeit koordiniert Snyder eine Studie über das wachsende Problem der Prostitution von Straßenkindern, die vom Kinderhilfswerk terre des hommes finanziert wird. Das Besondere: Straßenkinder sind selbst die Forscher. Dies entspricht dem „Kind-zu-Kind-Ansatz“, für den Bahay Tuluyan von der Unesco ausgezeichnet wurde. Der Ansatz geht davon aus, dass Kinder ihre Welt selbst am besten kennen und fähig sind, ihre Probleme selbst zu artikulieren und sich gegenseitig zu helfen, wenn sie richtig unterstützt werden.
Zum Forschungsteam gehören auch Jimmy (16) und Joseph (21), die seit Jahren im Vergnügungsviertel Malate auf der Straße leben. Sie hungern, prostituieren sich, nehmen Drogen und werden von der Polizei schikaniert. „Das größte Problem für uns Straßenkinder sind die Razzien“, erzählt Joseph. „Wir werden grün und blau geschlagen.“
Bei Bahay Tuluyan zählen die beiden zu den harten Fällen. Sie durchliefen schon diverse Programme, um dann doch wieder auf die Straße zurückzukehren. Doch von der Forschung sind sie begeistert. „Für sie ist es fast so, als würden sie sich selbst erforschen“, erklärt Snyder. „Wir haben für das Team Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren ausgewählt, die Prostitution aus eigener Erfahrung kennen.“
Beim Befragen anderer Straßenkinder lernen die „Forscher“ viel über ihre eigenen Probleme. Die Befragten vertrauen den Straßenkindern mehr an als Erwachsenen. „Sie kennen uns, und sie mögen uns. Und sie wissen, dass wir sie nicht verpfeifen,“ sagt Snyder.
Laut den ersten Ergebnissen der Studie bieten sich die Kinder meist selbst den Freiern an. Gibt es Zuhälter, sind dies meist andere Kinder oder Jugendliche. So schöpft die Polizei keinen Verdacht, da kein Missbrauch von Kindern durch Erwachsene vorliegt. Von der Polizei gibt es immer wieder brutale Übergriffe auf Straßenkinder bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Auch ein Kind aus dem Forschungsteam wurde von der Polizei ermordet.
Mit der Studie will Bahay Tuluyan Druck auf die Regierung ausüben. „Wir wollen, dass jeder weiß, wie die Kinder von der Polizei, den Behörden oder gewissenlosen Touristen missbraucht werden“, erklärt Jonathan España, der die Studie gemeinsam mit Snyder koordiniert. Das Elend der Kinder soll in das Bewusstsein von Eltern, Politikern, Polizisten und Richtern rücken. Das Projekt führt deswegen auch Seminare mit diesen Gruppen durch.
Bahay Tuluyan fordert, dass bestehende Gesetze zum Schutz der Kinder endlich umgesetzt werden. So gibt es beispielsweise bisher nur in wenigen Stadtteilen die vorgesehenen staatlichen Kinderschutzräte. Außerdem soll konsequenter gegen pädophile Freier minderjähriger Prostituierter vorgegangen werden. „Der Staat soll sich endlich stärker um die Straßenkinder kümmern und sich auch finanziell engagieren“, verlangt España. Auch er lebte früher auf der Straße, seine Schwester und Mutter prostituierten sich, um die Familie durchzubringen. Er kam zu Bahay Tuluyan und studierte später mit einem Stipendium Sozialarbeit an der Uni. Wie sein Kollege Snyder ist er ein Vorbild für viele Straßenkinder.
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