Frankfurt am Main im Herbst 1969: Dr. Willi Lautemann
Gott und die Welt
von Micha Brumlik
Neulich in Zehlendorf: Party eines Verlages, nach dem dareinst eine ganze Kultur Westdeutschlands genannt wurde. Präsentiert wurde die Neuausgabe einer späten Erzählung von Wolfgang Köppen (1906–1996), in der er sich seiner frühen Jahre besann: „Jugend“. Beim Sturm auf das Buffet begegnete ich einer Dame, die ich irgendwie kannte – nach einem kurzen Wortwechsel entsann ich mich dunkel an Ort und Zeit: Frankfurt am Main im Herbst 1969, das philosophische Seminar im alten Hauptgebäude der Universität, ein damals von Trauer und Diadochenkämpfen gezeichneter Ort: war doch Anfang August Theodor W. Adorno gestorben und die Frage, wer die legitimen Erben der „Kritischen Theorie“ seien, erhitzte die Gemüter.
Nach ein paar kurzen Wortwechseln stellte sich die Dame als die Autorin Gisela von Wysocki heraus, die soeben – vor vierzehn Tagen – einen neuen Roman publiziert hatte: „Wiesengrund“. Der Roman erzählt, wie die aus Österreich kommende Icherzählerin schon als Mädchen von den Radiovorträgen Adornos fasziniert war, nach Frankfurt ging, um dem Philosophen zu lauschen und wie sie schließlich seine Zuneigung gewann.
Ich verschlang den Roman, den mir die Gastgeberin großzügig überließ, bereits am nächsten Tag, spielte doch neben dem „Wiesengrund“ genannten Adorno eine weitere Gestalt eine erhebliche Rolle: ein Mann namens Rahlsberger, von dem das Lesepublikum glauben könnte, der dichterischen Phantasie der Autorin entsprungen zu sein.
Kannte doch die neuere deutsche Literatur seit der Romantik genau solche Typen: kleine, bisweilen dämonisch wirkende, körperlich stigmatisierte, gleichwohl oder eben deshalb intensivst lebende Männer – zu denken ist etwa an Thomas Manns „kleinen Herrn Friedemann“ oder eben und vor allem an E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches.“
„Obgleich sein Gesicht so jämmerlich zwischen den Schultern saß“, heißt es bei Thomas Mann, „war er doch beinahe schön zu nennen.“ E. T. A Hoffmann aber schreibt über „Klein Zaches genannt Zinnober“ dass man, schärfer hinblickend „die lange spitze Nase, die aus schwarzen, struppigen Haaren hervorstarrte, und ein Paar kleine, schwarz funkelnde Äuglein“ erkennen konnte.
Philosoph Rahlsberger, die zweite Hauptfigur von Wysockis Roman, freundet sich mit der Icherzählerin an, kommentiert bitter bis giftig den einen oder anderen Auftritt Wiesengrunds und kocht mit ihr in seiner Wohnung: einer winzigen Einzimmerwohnung im Frankfurter Osten, die der schwer asthmakranke Erforscher der Philosophie Fichtes zentimeterhoch mit wertvollen Orientteppichen ausgelegt hatte: Staubfänger sondergleichen, die man bei einem Asthmatiker zuallerletzt erwartet hätte.
Von diesem Mann heißt es im Roman, dass er Wiesengrunds Denken für lediglich „phänomengesteuert“, also für nicht eigenständig hält, gleichwohl sei – so die Icherzählerin – in dessen Vorlesungen „kaum etwas so ausdauernd sichtbar wie das weiße, von regelmäßigen Räucherbehandlungen und tagtäglichen Inhalationen asketisch ausgehöhlte Gesicht Erwin Rahlsbergers.“
Ja, auch meine Kommilitonen und ich diskutierten in jenem Herbst 1969, ob Adorno mitsamt seinem kritischen Anspruch seine erkenntnistheoretischen Voraussetzungen unter Kontrolle habe und kamen zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall war. Vor allem aber: Der Rahlsberger des Romans ist keine Erfindung der Autorin Gisela von Wysocki, er lehrte in Frankfurt, wir debattierten mit ihm das Wesen der Subjektivität und erwanderten uns mit ihm die Region des oberen Mains – Lohr und Marktheidenfeld – bis an den Rand der Erschöpfung.
Dr. Willi Lautemann, dessen hier gedacht werden soll, war ein bedeutender Fichteforscher und starb allzu jung im November 1979 im Alter von 44 Jahren bei einem frühmorgendlichen Spaziergang an Luftnot – eines vergessenen Inhalationsgeräts wegen. Er war ein Schüler des Philosophen Wolfgang Cramer, eines anderen Frankfurter Professors. Cramer – in jungen Jahren Mitglied der NSDAP – ließ in den frühen 1960ern über einen Frankfurter Studenten bekannt werden, dass Adorno 1934 eine Vertonung von Gedichten des nationalsozialistischen Jugendführers Baldur von Schirach mit Hinweis auf Goebbels Begriff „Romantischer Realismus“ begrüßt hatte.
Der Rahlsberger des Romans aber teilt kaum verklausuliert mit, beinahe einem nationalsozialistischen Mordprogramm zum Opfer gefallen zu sein. Die Icherzählerin resümiert: „Fühlte die schwierige Hypothek einer Vergangenheit, die sich in Rahlsberger als pure Gegenwart verkörperte.“
Micha Brumlik lebt in Berlin und arbeitet am Zentrum für Jüdische Studien
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