Tote vor EU-Enklaven

AUS MADRID REINER WANDLER

Marokko führt die internationale Gemeinschaft an der Nase herum. Während ein Gruppe von Immigranten, die zuvor in der Wüste ausgesetzt worden waren, nach Protesten wieder in den Norden Marokkos geschafft werden, um sie von dort in ihre Herkunftsländer auszufliegen, werden andere in den Süden verschleppt. Das machten gestern SOS Rassismus und Ärzte ohne Grenzen (MsF) bekannt.

„250 Immigranten sind verschwunden“, beschwerte sich der MsF- Chefkoordinator in Marokko, Javier Gabaldón, gestern per Mobiltelefon. Die Vermissten gehören zu einer Gruppe von über 1.000 Immigranten, die das Team um Gabaldón am Freitag an der marokkanisch-algerischen Grenze, 600 Kilometer südlich der Mittelmeerküste, gefunden hatte. Sie waren von der marokkanischen Gendarmerie fern ab jeder menschlichen Siedlung ohne Nahrung und Wasser ausgesetzt worden. Zuvor waren ihnen Ausweispapiere, Geld und Mobiltelefone abgenommen worden.

Erst nach heftigen Protesten von MsF hatte die marokkanische Regierung Busse in die Wüste geschickt, um die Betroffen wieder abzuholen. Die Botschafter aus dem Senegal und aus Mali wurden eigens eingeflogen. Sie sicherten zu, ihre Staatsbürger in die Heimat zurückführen zu lassen.

„Daraufhin wurden die aussortiert, die aus keinem der beiden Ländern stammen“, berichtet Gabaldón. Diese 250 Menschen wurden auf ein Landgut nahe der Ortschaft Bouarfa gebracht, um dort die Nacht zu verbringen. „Als wir sie am Sonntagmorgen besuchen wollten, waren sie weg“, berichtet Gabaldón. Überall lagen zerfetzte Klamotten, Schuhe und Taschen herum. „Alles deutet auf eine Schlacht hin.“ MsF befürchtet, die Gendarmerie könne 250 Menschen, darunter Verletzte, schwangere Frauen und Kinder, abermals in die Wüste verfrachten. In einem der Busse, mit denen die Betroffen verschleppt wurden, soll es zu einer Rebellion gekommen sein.

Bei der Gruppe aus Bouarfa handelt es sich nicht um die einzigen Flüchtlinge, deren Schicksal unklar ist. So haben spanische Mitglieder von SOS Rassismus drei von der marokkanischen Armee begleitete Bus-Konvois mit 2.400 Flüchtlingen an Bord ausgemacht. „Einem folgen wir“, erklärt ein Sprecher, der seinen Namen nicht gedruckt sehen will. Bei Redaktionsschluss befanden sich die neun völlig überfüllten Busse unweit des südmarokkanischen Urlaubsparadieses Agadir. Zwei weitere Konvois, mit denen SOS Rassismus in telefonischem Kontakt steht, fahren von Oujda Richtung Süden.

Die Flüchtlinge an Bord waren in den Wäldern rund um die spanische Enklaven Ceuta und Melilla festgenommen worden. „Sie sind an den Händen gefesselt und erhalten seit zwei Tagen weder Wasser noch Nahrung. Es gibt auch keine Pinkelpausen“, erzählt der SOS-Sprecher. Das Ziel ist vermutlich das unwirtliche Grenzgebiet zwischen der von Marokko besetzten Westsahara und Mauretanien. „Einmal dort ausgesetzt, sind die Flüchtlinge zum Tode verurteilt“, ist sich der SOS-Sprecher sicher.

Bei der Abfahrt der Busse soll es, so wurde SOS Rassismus per Handy aus den Bussen berichtet, Tote gegeben haben. „Außerdem sind 1.500 Menschen ganz einfach verschwunden“, klagt SOS Rassismus. Sie wurden festgenommen, und keiner weiß, wo sie abgeblieben sind. „Wir rufen die EU auf, endlich einzuschreiten“, erklärt der SOS-Sprecher.

Spaniens Außenminister Miguel Ángel Moratinos wird heute nach Marokko reisen. Bevor Rabat nicht die Menschenrechte gewährleiste, gebe es keine weiteren Abschiebungen aus Ceuta und Melilla, ließen die spanischen Behörden gestern verbreiten. Beobachter vor Ort jedoch berichten anderes. Am Wochenende sollen mindestens 240 Schwarzafrikaner von Melilla in Abschiebehaft auf die iberische Halbinsel gebracht worden sein.