: Wenn wir doch Pflanzen wären
Theater Die Sorge um die Zukunft und die Kinder zieht sich durch alle Episoden in „Buch.Berlin“. Das Stück von Fritz Kater inszeniert Tilmann Köhler am Deutschen Theater. Viel lautes Geräusch, das schließlich entsetzt
von Katrin Bettina Müller
Jahreszahlen stehen oben über der Bühne und Orte und Begriffe: etwa „phantasie (winter 1974) (berlin)“ oder „instinkt (1998–2006) (west-tansania oder hbf essen)“. Die Angaben sind mit ihren vielen Klammern ebenso erklärend wie verwirrend. Gibt eine Chronologie dem Stück „Buch.Berlin (5 ingredientes de la vida)“ von Fritz Kater seine Struktur vor? Oder die Stichwörter Utopie, Fantasie, Liebe und Tod, Instinkt und Sorge? Im Grunde spielen diese Elemente in jeder der vielen Episoden eine Rolle. Sie sind zwar chronologisch aufgereiht, aber von Entwicklung erzählen sie dennoch kaum. Eher von der tief enttäuschenden Erfahrung, allen Utopien zum Trotz an immer wieder den gleichen Problemen und Unzulänglichkeiten zu scheitern.
Überforderte Eltern, verlassene Kinder – es ist nicht das erste Mal, dass Fritz Kater (alias Armin Petras) in seinen Stücken davon erzählt, und wie schon so oft spielt dabei das System DDR eine Rolle, der verordnete Fortschritt auf der einen Seite, das Gefühl des Ungenügens und Versagens auf der anderen. Petras hat viele solcher Geschichten, von ihm geschrieben und auch von anderen Autoren, selbst inszeniert in seiner Zeit als Intendant am Berliner Gorki Theater. Auch von „Buch.Berlin“ besorgte er die Uraufführung an den Münchner Kammerspielen. Für das Deutsche Theater hat jetzt der etwas jüngere Regisseur Tilmann Köhler die Regie übernommen, ebenfalls ein liebevoller Erzähler, der gut zu seinen Figuren ist.
Weltformel und Abgründe
Und trotzdem, obwohl Autor und Regisseur sich nahe sind, lässt einen dieser episodische Abend etwas ratlos. Wohin will Kater mit dieser Geschichte, was treibt ihn erneut in die Zeit einer Kindheit in der DDR? Ja klar, es ist berührend und witzig, wie die zwei Schwestern (Wiebke Mollenhauer, Linn Reusse) sich für ihre kleinen Brüder (Christoph Franken, Benjamin Lillie) Geschichten und Spiele ausdenken, um die eigene Verzweiflung zu überspielen. Alle vier warten frierend und hungernd auf einem Bahnsteig. Auf die Mutter, die aber (die Episode spielt 1974) vermutlich in den Westen abgehauen ist. Sie wollen zum Vater nach Berlin-Buch, der dort, alkoholkrank in einem Sanatorium ist. Um den kreist die dritte Episode: In kurzen Prosasätzen erzählt Jörg Pose von einem Leben im Wartezustand, von zu viel Bier und zu wenig von allem anderen.
Jörg Pose kann das sehr gut: vom unteren Rand der Lebensgeister aus mit müden Worten hier und da in Abgründe blicken lassen. Der Vater, den er spielt, war auch einmal Wissenschaftler, hatte auch einmal eigene Theorien, wie das Problem von Hunger und Welternährung zu lösen sei; er schreibt die Formeln für Wasser und Licht an eine Wand, als sei der Mensch in eine Pflanze zu verwandeln, die sich per Photosynthese ernähre. Aber schon mit der nächsten Bewegung wirft er ganze Farbeimer gegen die Tafel; vergeblich das alles, sein Hirn trickst sich selbst aus; jetzt weiß er schon wieder nicht, wo die eigenen Kinder sind. Dazwischen spielen die Kinder, wie sie sich verlieben, im See baden, verlassen werden.
Die Sorge um die Kinder, im Kapitel „Instinkt“ treibt eine junge Elefantendame an, die ihr Kälbchen nicht vor der Trockenheit und nicht vor den Jägern beschützen kann. Im Kapitel „Sorge“ schließlich reibt sich ein Paar auf, weil sie ihrem Kind, dem kranken „Hasen“ nicht helfen können. Alles wird zum Vorwurf: dass er Künstler ist und oft nicht zu Hause, dass sie, die Mutter, nichts anderes tut, als das Leben auf das Muttersein abzustellen. Dass sie sich mal liebten, ist für beide nur noch mit hohem Energieaufwand darstellbar.
Entscheidet die Geschichte über den Menschen? Oder die Natur? Eine große Unsicherheit in dieser Frage, die zeigt sich immer deutlicher in dem Stück. Der Vater in der „Sorge“-Episode diskutiert darüber mit einem Arzt im Krankenhaus – von Christoph Franken als tänzelnder Clown gespielt, der existentielle Fragen in Luftballons verwandelt und schnell zum Platzen bringt. Kater/Petras hat in Texten und Inszenierungen lange auf die Geschichte gesetzt; vielleicht wurde dieser Text jetzt notwendig, weil er sich nicht mehr sicher ist über das Verhältnis von Mensch, Geschichte und Natur.
Der Mensch wird sich nicht in eine Pflanze verwandeln, die nur von Licht und Wasser lebt. Er wird weiter Kriege führen und Massaker begehen. Das ist seine Geschichte und womöglich auch seine Natur. Dass das so sein könnte, so kann man am Ende des Abends auch vermuten, macht eigentlich stumm vor Entsetzen. Und das ganze Theater davor musste so viel lautes Geräusch erzeugen, um den Mut zu finden, sich dem zu stellen.
„Buch.Berlin“ ist am 28. 9., 6./12./ und 21. 10. im Deutschen Theater zu sehen
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