piwik no script img

Bühne frei für Spiegelneuronen

GEHIRNTHEATER In „Brain Projects“ untersucht die Gruppe Rimini Protokoll im Schauspielhaus in einer wissenschaftlich-theatralen Versuchsanordnung die Möglichkeit, Denkprozesse digital zu simulieren

von Katrin Ullmann

Seit Jahrtausenden steht es im Fokus der Wissenschaft, bis heute bereitet es Philosophen und Forschern gleichermaßen und wortwörtlich Kopfzerbrechen: Lässt sich das Gehirn und das irgendwo in ihm lokalisierte Bewusstsein als System, als Uhrwerk oder als Orchester mit Dirigent beschreiben? Oder ist es eher so etwas wie eine Schaltzentrale oder ein Supercomputer?

Bis heute ist das Denkorgan eines der letzten großen Rätsel der Menschheit: Mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen, durch Billionen Synapsen miteinander verknüpft, mit seinen kilometerlangen Nervenbahnen, seinen möglichen Fehlfunktionen, seinen oft noch unerforschten Erkrankungen und seinen schwindelerregenden Höchstleistungen.

„Lass es uns ein Interpretations- und Vorhersagesystem nennen“, schlägt der Berliner Psychopharmakologe Felix Hasler vor. Auf diesen Begriff können er und seine Antagonistin Irini Skaliora sich einigen. Hasler, unter anderem Autor des Buchs „Neuromythologie – Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung“ und die passionierte Athener Neurowissenschaftlerin Skaliora, deren aktueller Forschungsschwerpunkt die Arbeit von Netzwerken im Gehirn umfasst, sind zwei der Performer im aktuellen Theaterabend „Brain Projects“ von Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll.

Darin erarbeitet das Autoren-Regie-Team verschiedene theatrale Spielanordnungen zur Modellierung des Gehirns und bringt das „Sich-Denken“ ausdrücklich als „einen beobachtenden und hilflos ahnungslosen Prozess“ auf die Bühne. Der Abend streift das US-Forschungsprojekt „Brain Activity Map“, das Barack Obama Anfang 2013 ins Leben rief, sowie dessen europäisches Pendant „Human Brain Project“.

Bei dem 2012 gestarteten europäischen Großprojekt sollen das gesamte Wissen, alle Erkenntnisse über das menschliche Hirn gebündelt und das Denkorgan selbst schließlich simuliert werden. Ob der Vorgang des „Ich“-Sagens am Ende des „Human Brain Projects“ (2023) tatsächlich digital darstellbar sein wird? Der Großteil der Experten bezweifele das mittlerweile, haben Wetzel und Haug herausgefunden.

Der allgegenwärtige Neurohype, Buchtitel wie „Wir sind unser Gehirn“ oder „Du bist nicht Dein Gehirn“ und sportliche Untersuchungen über den Einfluss von Yoga auf unser Gehirn spielen an diesem Abend ebenfalls hinein. Vor allem aber ein wissenschaftliches Manifest von 2004, in dem elf führende Neurowissenschaftler euphorisch verkündeten, das Gehirn vollständig erforschen zu können – und dessen vorsichtige Revidierung zehn Jahre später.

Auf der Bühne stehen dabei drei „Experten das Alltags“, die Helgard Haug und Daniel Wetzel während ihrer Recherche sorgfältig ausgewählt haben. Immer stehen „echte Menschen“ im Mittelpunkt der Regiearbeiten von Rimini Protokoll, sie sind das Markenzeichen ihrer dokumentarischen Inszenierungen.

„Wir sind selbst keine Experten“, beschreibt Haug die Arbeitsweise, „gehen aber offensiv bestimmten Themen oder Fragestellungen nach, in dem wir dazu Experten treffen und in ihre Welt eintauchen.“ Durch die Auswahl der Performer fänden sie Wege, es zu erschließen, um am Ende der Recherche die Erfahrung wiederum mit den Zuschauern zu teilen. So wird die Darstellung der Realität zur eigenen Kunstform.

Neben Hasler und Skaliora ist die Berliner Musik-Kuratorin Lobna Allamii die dritte Protagonistin. Bekannt wurde sie, nachdem sie während der friedlichen Demonstration im Istanbuler Gezi-Park am 31. Mai 2013 von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen worden war. Ihr Gehirn war dabei schwer verletzt worden. Entgegen ärztlicher Prognosen, erwachte sie nach zahlreichen Operationen aus dem Koma und kämpfte sich langsam ins Leben zurück. In der Türkei wird Allamii als Heldin gefeiert – „ich hasse es, eine Ikone zu sein“, wird es an dem Theaterabend aus ihr herausbrechen.

Dabei gehe es, sagt Haug, „auch und vor allem im Zusammenspiel mit dem Bühnenbild von Heike Gallmeier, um einen permanenten Umbau, um ein Neukonstituieren von Zusammenhängen, um Überschreibungen und neue Setzungen – das macht den Abend spielerisch. Alle Vorgänge sind Zwischenergebnisse – mögliche Interpretationen und Sichtweisen“.

Tatsächlich öffnet sich in dieser wissenschaftlich-theatralen Versuchsanordnung noch eine weitere Dimension: „Im Gehirn befinden sich sogenannte Spiegelneuronen“, erläutert Haug. Für diese mache es keinen Unterschied, ob man etwas nur beobachte oder es selber mache. In der Zelle findet dann das gleiche Aktivitätsmuster statt.

Das wiederum passt zur Situation im Theater, zum empathischen (Mit-)Erleben des Zuschauers mit den Darstellern – gewissermaßen also „Brain Projects“ in „Brain Projects“.

So, 18.9. bis Do, 22.9., Schauspielhaus

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen