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Archiv-Artikel

Verzweiflung der Überlebenden wächst

In Kaschmir behindert schwerer Regen die Hilfe für die Opfer des Erdbebens. Im pakistanischen Muzaffarabad wird ein Lebensmittellager geplündert, im indischen Teil Kaschmirs lösen bürokratische Verzögerungen der Hilfe Unmut aus

AUS DELHI BERNARD IMHASLY

Einem Konvoi von zwölf Lkws ist es gestern erstmals gelungen, Hilfsgüter nach Muzaffarabad zu bringen, dem von dem Erdbeben schwer verwüsteten Hauptort des pakistanischen Teils von Kaschmir. Starker Regen behinderte aber die weitere Verteilung der Hilfe und brachte die Rettungsmaßnahmen fast zum Erliegen. Am Nachmittag mussten alle Hilfsflüge von Hubschraubern ausgesetzt werden. Meteorologen sagten weiteren Regen und eine Kältewelle voraus.

Zuvor hatten bereits die Plünderung eines Lebensmittellagers durch 200 verzweifelte Überlebende in Muzaffarabad sowie Bilder von Menschen, die in den Trümmern nicht nach Überlebenden, sondern nach Lebensmitteln suchen, die wachsende Not der Betroffenen gezeigt. Die Zahl der Toten wird in Pakistan inzwischen auf mehr als 40.000 geschätzt. Innenminister Aftab Ahmed Scherpao bestätigte mindestens 33.000 Tote.

Gestern kam es zu ersten Seuchenwarnungen, weil man nun davon ausgehen muss, dass noch immer zahlreiche Leichen unter den Trümmern liegen. Viele Spitäler sind zerstört – die UNO spricht von über tausend – und damit die gesamte medizinische Infrastruktur. Neben Zelten für mehrere Millionen Obdachlose werden daher auch dringend Lazarettzelte benötigt.

Noch näher am Epizentrum des Bebens als Muzaffarabad liegen ein Dutzend Dörfer auf der indischen Seite der Waffenstillstandslinie. Erst gestern gelang es Rettungsteams der Armee, dorthin erste Hilfe zu bringen. Es wird erwartet, dass die Zahl der Toten noch einmal in die Höhe schnellen wird, wenn das Ausmaß der Katastrophe in diesen entlegenen Tälern klar wird. Premierminister Manmohan Singh, der gestern die zerstörten Städte nördlich von Srinagar besuchte, bezifferte die Zahl der Toten in Indien auf über 1.300. Wie in Pakistan empören sich die betroffenen Menschen über bürokratische Verzögerungen der Hilfe, sobald Regierungsvertreter auftauchen. Meist wird dabei die Armee aber ausgeklammert.

Während Politiker beschimpft werden, klatschen die Zuhörer, wenn die Rede auf die Rolle der Militärs kommt. Obwohl auch Indiens Armee über 200 Soldaten verlor, setzte sie umgehend ihre beträchtlichen Ressourcen zur Hilfe ein. Erstmals erhielt so die Armee, die von vielen Kaschmiris bisher als Besatzungsmacht gesehen wurde, die gern ergriffene Chance, ihre Macht auch zur Rettung von Menschenleben einzusetzen. Dies gilt namentlich für die Bereitstellung von Militärzelten, welche die Menschen vor der nächtlichen Temperaturen nahe des Gefrierpunkts schützen.

Auch die politischen Parteien haben ihre Streitereien für den Augenblick vergessen und setzen ihre Kader zur Verteilung von Hilfsgütern ein. Allerdings konzentriert sich die Hilfe auf die leicht zugänglichen Städte Uri und Baramullah im Tal von Srinagar, während die schwerer betroffenen Dörfer weiter nördlich bisher vergeblich auf Helfer warten. Wie in Pakistan kommt für viele der Verschütteten die nun anrollende Hilfe zu spät.