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Els­tern und Nebelkrähen im Aufwind

ÜBERLEBEN Nicht wenige Menschen kümmern sich um das Wohlergehen der hiesigen Rabenvögel. Auch schärfere Naturschutzgesetze haben den Berliner Populationen gutgetan. Insgesamt aber haben sich die Lebensbedingungen dieser großen Singvögel verschärft – seit ihnen die Müllkippen der Stadt verschlossen sind

Abends treffen sich die Saatkrähen an Sammelstellen und fliegen zu ihren Schlafplätzen. Im Winterhalbjahr kommen „Gäste“ aus Osteuropa dazu – aber längst nicht mehr so viele wie früher Foto: Andreas Teich/Caro

Von Helmut Höge

Mehrere Leute, die den Rabenvögeln in Berlin helfen und sie gegebenenfalls aufziehen, habe ich besucht. Einige haben daraus fast einen Beruf gemacht. Mein Eindruck ist, dass es mehr Frauen als Männer unter ihnen gibt, meist leben sie am Stadtrand und haben einen Garten. Gelegentlich bleibt eine Nebelkrähe oder ein Eichelhäher in ihren Volieren zurück, weil etwa die Flügelfedern nicht richtig gewachsen sind.

Der Eichelhäher der Lichterfelder Tierärztin Renate Lorenz lebt in ihren Praxisräumen. Er besaß gar keine Federn, als er vor 15 Jahren zu ihr gebracht wurde. Er bekam dann eine Hormonkur – und daraufhin irgendwann ein schönes Federkleid. Mit dem schwang er sich nach draußen in die Höhe. Aber die Hormonwirkung ließ bald nach; heute lebt er wieder im Haus und geht zu Fuß. Schön und lebenslustig ist er immer noch.

Die in Charlottenburg lebende Tiermedizinerin Almut Malone hat mehrere Volieren, bei ihr leben derzeit zehn junge Nebelkrähen und zwei ältere, die flugunfähig sind; Malone vermutet aufgrund einer Mangelernährung als Nestlinge. Sie hat während ihres Studiums bereits eine Rabenkrähe großgezogen.

Lorenz beschäftigt zwei Praxishelferinnen und arbeitet mit einem Chirurgen zusammen; Malone kooperiert mit der „Vogelpraxis“ von Sonja Kling in Charlottenburg, außerdem nimmt die in Spandau lebende Renate Sypitzki Elstern und Eichelhäher auf.

Über Renate Lorenz und ihre vielen Tiere hat die Journalistin Rosa Bunt ein Buch geschrieben: „Tierisch drauf!“ Almut Malone hat selbst eine Broschüre herausgegeben: „Grundlagen für den Umgang mit hilfsbedürftigen Wildvögeln“, daneben auf Englisch eine Biografie, fokussiert auf ihre Hinwendung zu Vögeln: „Free Like A Bird“. Mit ihrem Verein „Avian Vogelschutz“ richtete sie eine „Vogelklappe“ ein. Vor allem im Frühjahr steht dort das Telefon nicht still.

Hinter einer Berliner „Raben in Not“-Telefonnummer steht ebenfalls ein gemeinnütziger Verein. Er wurde 2009 von Jens Gruhle gegründet, der in Tempelhof mehrere Volieren hat. Der ehemalige Tierpfleger bekommt die Vögel meist von der Kleintierklinik der FU in Düppel und vom Naturschutzbund (Nabu). Den Sinn seines Einsatzes für die Rabenvögel sieht er darin, sie „auszuwildern“. Wenn er meint, dass sie so weit sind, öffnet er das Drahtdach der Volieren. Dann können sie notfalls zurückkommen – an die gefüllten Futternäpfe. Derzeit hat er noch fünf Nebelkrähen, eine Elster und eine zahme Rabenkrähe.

Letztere hat man eingefangen, weil sie den Kindern auf Schulhöfen in Spandau ihr Pausenbrot klaute. Gruhle wartet, dass der Nabu-Hamburg ihm ein männliches Tier überlässt, mit dem „seine“ Krähe dann vielleicht „ihre Menschenprägung verliert“. In der Voliere ist die „Prinzessin“ jetzt unterfordert, und mit einer der jungen Nebelkrähen will sie sich nicht verpaaren. Obwohl das möglich wäre: Rabenkrähen leben westlich der Elbe, Nebelkrähen östlich. Nur in einer Zone dazwischen verpaaren sie sich auch; ihre Jungen nennt man Rakelkrähen.

Das sind die Rabenvögel

Diese Rabenvögel-Arten sind in der Stadt anzutreffen: Kolkrabe, Nebelkrähe, Saatkrähe, Dohle, Eichelhäher und Elster. Die Rabenkrähe kommt nur in Westdeutschland vor, die Grenze zwischen ihr und der östlichen Nebelkrähe verläuft kurioserweise entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze. Rabenvögel gelten als sehr sozial und intelligent. So wurden angeblich schon Krähen beobachtet, wie sie Nüsse an roten Ampeln auslegen, um sie von drüberfahrenden Autos „öffnen“ zu lassen. Seitdem gibt es unzählige Intelligenztests mit gefangenen Rabenvögeln.

Nahrung: Rabenvögel ernähren sich hauptsächlich von Sämereien und Kleingetier, in der Stadt kommen Abfälle – von Döner bis Pommes – dazu. Zudem sind sie Aasfresser. Vor allem Elstern greifen in der Brutzeit auch gern auf Eier und Jungvögel zurück, was sie bei Freunden kleinerer Singvögel verhasst macht. Laut Nabu betrifft das aber vor allem nicht gefährdete Arten wie Drosseln, Finken und Tauben.

Schutzstatus: Die Europäische Union stellte mit der EG-Vogelschutzrichtlinie von 1979 alle Singvogelarten, wozu auch Rabenvögel gehören, unter ganzjährigen Schutz. 1994 wurde dies auf Druck der Jäger gelockert: Seither können für Elster, Raben- und Nebelkrähe sowie Eichelhäher Jagdzeiten ernannt werden – Deutschland hat davon aber laut Nabu bislang „gesetzlich keinen Gebrauch gemacht“. (hoe)

Post von Crow-Indianern

Gruhle schätzt Raben und ­Krähen sehr, kümmert sich aber auch um alle anderen Vögel, wenn nötig. 2015 waren das neben 49 Rabenvögeln 22 Ringeltauben, 3 Wachteln und 2 Spatzen. Sein Einsatz für die Rabenvögel hat sich herumgesprochen. Kürzlich bekam er einen Brief aus Kanada – von „Krähen-Indianern“ (Crows): Sie bedankten sich bei ihm dafür, dass er sich so um ihr Totemtier kümmert.

Vom Leiter der Wildvogelstation des Nabu, André Hallau, erfuhr ich, sie bekämen die meisten Vögel von der Kleintierklinik der FU, aber auch Privatleute brächten ihnen welche. „2015 hatten wir 40 Rabenvögel, darunter zwei Kolkraben. Von denen gibt es in Berlin immer mehr Brutpaare, nicht nur in den Stadtwäldern. Das gilt auch für Eichelhäher, die sich selbst hoch verdichtete Siedlungsgebiete erschließen. Sie werden dementsprechend auch immer häufiger gefunden und nach Düppel oder zu uns gebracht. Wir leeren die Volieren im September, wenn sie bis dahin nicht ‚fit for flight‘ sind, geben wir sie zum Beispiel zu Herrn Gruhle.“ Die Volieren der Wildvogelstation haben Sichtblenden, damit die Vögel sich nicht an die Menschen gewöhnen. Tierärztin Malone kritisiert daran, dass sie sich auf diese Weise, während einer wichtigen Lernphase abgeschirmt, nicht mit der übrigen Umwelt vertraut machen können.

Vom Aussterben bedroht

Der Nabu-Mitarbeiter Jens Scharon, Sekretär der Berliner Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft (BOA), kennt Zahlen: „Nach einer Zunahme von Elstern und Nebelkrähen in Berlin hat es eine Stabilisierung der Populationen gegeben. Derzeit gibt es 3.900 bis 4.700 Elstern-Brutpaare und 4.100 bis 4.900 Nebelkrähen-Brutpaare. Bei Saatkrähen und Dohlen stellten wir einen starken Rückgang fest, beide sind in Berlin vom Aussterben bedroht“ – und stehen deswegen auf der Roten Liste. Scharon weiter: „Derzeit gibt es bei diesen Koloniebrütern noch etwa 41 Dohlen-Brutpaare und rund 80 Saatkrähen-Brutpaare. Erstere sind Höhlenbrüter und Letztere Freibrüter in hohen Bäumen.

Bei den Kolkraben nehmen derzeit die Brutpaare zu, sie brüten gelegentlich sogar schon auf oder an Kirchtürmen. An sich hat sich die Nahrungssituation jedoch für alle Rabenvögel negativ entwickelt, weil die Müllkippen seit der Mülltrennung für sie nicht mehr interessant sind und die Freiflächen hier immer weniger werden.“

Sobald Fetel flugfähig ist, soll sie ausgewildert werden, sagt Tierfreund Peter Schädlich Foto: André Wunstorf

Zudem sind seit der Übernahme des Kapitalismus auch in Osteuropa jede Menge Müllplätze entstanden, auf denen einstweilen noch Abfälle mit hohen organischen Anteilen deponiert werden, sodass vor allem die Saatkrähen dort jetzt das ganze Jahr über genug Nahrung finden, wie der ehemalige Vorsitzende des Nabu Berlin, Hans-Jürgen Stork, von einem Ornithologen in Łódź erfuhr. Zuvor waren im Winter noch bis zu 80.000 Saatkrähen aus dem Osten hier eingeflogen.

Der FU-Biologe Stork, der in jungen Jahren ebenfalls einmal eine Nebelkrähe aufzog, hat mit Studenten und Diplomanden von 1973 bis 2006 die Rabenvögel-Populationen in der Stadt erforscht und sich als Naturschützer, wenn es um den Erhalt ihre Brutreviere ging, auch politisch engagiert – etwa am Flughafen Tegel, als dort eine der letzten in Berlin brütenden Saatkrähen-Kolonien mit der geplanten Umnutzung der Landebahnen ihre Brutbäume verlieren sollte. 2015 zählte er 70 Brutpaare, dazu kämen sieben weitere auf dem Gelände des Tegeler Gefängnisses, „im Winter halten sich bis zu 2.000 Krähen auf dem Flughafen auf“.

Stork meint, die Saatkrähen, aber auch die Nebelkrähen und Dohlen seien vor etwa 50 Jahren – zur Wirtschaftswunderzeit – aus Russland hierhergekommen. Bei verletzten Jungvögeln ist er eher dafür, dass man sie in Ruhe lässt, sodass Füchse, Eulen oder Katzen sie finden: „Solche Nahrungsketten-Beziehungen sind uns Ökologen näher als einem Vogelfreund. Wir müssen immer auch ein bisschen gegen die berühmte Tierliebe der Berliner halten.“

Auf dem Tegeler Flughafen sah man zunächst in den Krähen eine Gefahr für den Flugverkehr, sodass dort mehrmals versucht wurde, sie von ihren Bäumen zu „vergrämen“, also zu vertreiben, etwa von der Feuerwehr mit Wasser. Weil aber dem „Deutschen Ausschuss zur Verhütung von Vogelschlägen im Flugverkehr“ an gesicherten Erkenntnissen gelegen war, konnten die Feldbiologen das Brut- und Flugverhalten der Krähen sogar vom Tower aus beobachten, dazu bekamen sie Radaraufnahmen von den Vogelschwärmen. Mit der „radarornithologischen Untersuchung von 1977 bis 1982“ ließen sich die Krähenflüge über die Stadt hinaus ebenso verfolgen (siehe Grafik) wie deren Störungen etwa durch Silvesterfeuerwerke.

Hans-Jürgen Stork fasste die Forschungsergebnisse 2012 in den „Berliner ornithologischen Berichten“ zusammen. Wenn es kalt wurde und auch noch Schnee fiel, flogen massenweise Saatkrähen aus dem Osten hier ein, wobei sich nur ein Teil am Flugfeld versammelte, um von dort zu den „zentralen Sammelplätzen“ zu fliegen – und dann gemeinsam zu den „Schlafplätzen am Tegeler See“. Bestandserfassungen „direkt an den Schlafplätzen ergaben allmähliche Rückgänge der Winterbestände im Stadtgebiet … Darüber hinaus erfolgten neue Schlafplatzverlagerungen in den Tiergarten und nach der politischen Wende bis nach Berlin-Mitte.“

Haben sich aneinander gewöhnt: Fetel und die Katze. Ein Hund lebt auch in der Wohnung Foto: André Wunstorf

Stork und seine Mitarbeiter konnten nachweisen, wie nach Einführung des Naturschutzgesetzes 1975 der damals gegen null gehende Bestand an in Berlin nistenden Saatkrähen sprunghaft anstieg – bis er 1990 mit 350 Brutpaaren einen vorläufigen Höchststand erreichte. Und umgekehrt, dass die Vergrämungsmaßnahmen die „Anzahl der besetzten Nester“ 2007/2008 gegenüber 2004 fast halbierten.

Die langjährige Erforschung ihrer Tegeler Kolonie änderte laut Stork auch die Einstellung des Flughafenpersonals gegenüber den Krähen: „Heute werden sie gefüttert. In den letzten Jahren haben sie sich angewöhnt, auf dem Flughafengebäude zu übernachten.“

Das falsche Futter

Während der FU-Biologe Stork im Norden der Stadt die Nebelkrähen erforschte, hat sich der Biologe der Humboldt-Universität Rolf Schneider im Süden auf Dohlen konzentriert. Es findet bei den Rabenvögeln ein Kommen und Gehen statt: Die Elstern und die Eichelhäher sind derzeit im Kommen, während die Dohlen verschwinden. Ihre größte Kolonie befand sich in Köpenick, dort gab es ab 2003 dann auch eine Kooperation der Humboldt-Biologen mit dem Nabu. Schneider fand heraus: „Die Dohlen bekommen in der Stadt weniger Nachwuchs als auf dem Land. Das Futterangebot ist problematisch: Zwar gibt es genug Kohlehydrate (wie Brot), aber sie brauchen für die Aufzucht Eiweiß (Insekten, Würmer). Die Sterberate der in der Stadt geborenen Jungen beläuft sich auf 70 bis 100 Prozent, auf dem Land betrifft es nur 25 Prozent.“

Ornithologie per Radar 1977–82: Anflugrouten und Sammelplätze zu den Schlafplätzen (graue Flächen) am Tegeler See und am Flughafen Tegel Foto: Abb.: Hans-Jürgen Stork, Berliner Ornithologischer Bericht Nr. 22, 2012

Im „Rabenforum“ des Internets wird berichtet, dass wieder etliche Kolkraben-Paare in den Wäldern nisten – etwa 350, davon rund 20 im Spandauer Forst. Die Landwirte in der Umgebung beantragten bereits eine Sondergenehmigung für ihren Abschuss, die Obere Naturschutzbehörde lehnte dies jedoch ab. Früher nisteten besonders viele Kolkraben rings um die Westberliner Müllkippe in Wannsee auf den Bäumen drumherum. Sie lebten von den Abfällen, und das so gut, dass sie, die normalerweise als Brutpaare riesige Reviere für sich beanspruchen, dort auf engstem Raum siedelten – bis die Müllkippe 2005 zugeschüttet wurde. Bis dahin erforschte der Feldbiologe Carsten Hinnerichs die Population. Engagierte Rabenforscher kamen extra wegen dieser Besonderheit im Brutgeschehen aus den USA angeflogen.

Hinnerichs’ Doktorvater, der Potsdamer Ökoethologe Hans-Dieter Wallschläger widerlegte währenddessen die bäuerliche Mär, dass Kolkraben junge Kälber, Lämmer und Ferkel töten und anfressen: Weil diese Vögel nicht die Kraft im Schnabel haben, brauchen sie laut Wallschläger Wölfe, Füchse oder Hunde, um einen Kadaver „aufzubrechen“, sie sind deren „Nachnutzer“.

Während dieser Recherche nahm ich immer mehr Rabenvögel wahr. In Frohnau stieß ich auf eine ganze Elster-Kolonie in den Bäumen, man klärte mich aber auf: Es waren bloß wenige Paare, sie bauen oft mehrere Nester – sogenannte „Täuschnester“; nur auf ihren Schlafbäumen bilden sie bei Dunkelheit größere Kolonien.

In eigener Sache füge ich abschließend noch hinzu: Der Name „La Gazzetta“ für Zeitung leitet sich vom italienischen Namen der Elster „Gazza negra“ – die „Schwatzhafte“ – her.

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