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Potenzierte Akustik

KLANGVIELFALT Durchdachte Dramaturgie, konzeptionelle Kniffe: Das Musikfest geht nach dem Turbo-Start in die zweite Runde

Hat viel vor: Martin Grubinger der Jüngere, am Dienstag in der Glocke Foto: Felix Broede

von Henning Bleyl

„Villazón ist einer, der unablässig liefert“, schrieb die taz anlässlich der umwerfenden Monteverdi-Performance, die der mexikanische Tenor Rolando Villazón beim Musikfest 2015 auf die Bühne schmiss. Gemeint war Villazóns unbändige Energie, sein stetes Bedürfnis, jederzeit und so raumgreifend wie möglich „über die Rampe“ zu kommen; auch der – ästhetisch nicht unproblematische – Umstand, dass Villazón ohne Intensität nicht kann. Nun wird Villazón selbst „beliefert“: mit dem Musikfest-Preis 2016.

Der Sänger, heißt es in der Begründung, verschreibe sich „immer der Verpflichtung, die Musik als Klangerzählung aus dem Augenblick erstehen zu lassen.“ Dabei gelängen ihm „Rollenportraits, die mit Dramatik und Emphase aufgeladen, bis zum Kern der Kompositionen vordringen und in seinen Interpretationen extreme Gefühlswelten greifbar machen“.

Leider verzichtete die Jury darauf, auch Villazóns frappante künstlerische Verwandtschaft mit Rowan Atkinson herauszuarbeiten – der besser bekannt ist als Mr Bean. Villazón ähnelt ihm nicht nur äußerlich und mimisch, sondern auch in seiner schier unstillbaren Lust an körperlicher Clownerie.

Villazón, auch als Cartoonist und TV-Moderator aktiv, tritt seit 2012 regelmäßig beim Bremer Musikfest auf – und in einer Woche, am 3. September, erstmals als Titelheld in Monteverdis „L’Orfeo“ in der Glocke. Wieder wird dann, was leider noch immer großen Seltenheitswert hat, mit Christina Pluhar eine Dirigentin am Pult stehen. Auch im vergangenen Jahr setzte das Musikfest auf die durchaus interessante Kombination aus Maestra (2015 Emmanuelle Haïm) und Megastarmacho.

Villazón hat den Orpheus bisher noch nirgends gesungen. Dass er, der auf allen großen Musiktheater-Bühnen der Welt Triumphe feiert, dieses Rollendebut nun in Bremen gibt, wird mit einer ebenfalls durchdachten Festival-Dramaturgie gewürdigt: Am Dienstag bekommt Villazón einen handgegossenen Orpheus des Worpsweder Bildhauers Bernd Altenstein als Musikfestpreis-Trophäe überreicht.

Die insgesamt 63 Konzerte und Opernproduktionen, mit denen das Musikfest Bremen und den Nordwesten noch bis zum 10. September akustisch updatet, machen die Auswahl schwierig. Diesen Sonntag muss man sich zum Beispiel zwischen einer vermutlich grandiosen „Tancredi“-Produktion in der Glocke und „Gli Angeli Genève“ in Ganderkesee entscheiden.

Pech ist, dass gleich zwei der „Tancredi“-ProtagonistInnen wegen Krankheit absagen mussten: die russische Sopranistin Olga Peretyatko und der US-Tenor René Barbera. Doch da sie durch Patrizia Ciofi und Mario Zeffiri ersetzt werden, wird Rossinis Voltaire-Vertonung sicher zu den diesjährigen Musikfest-Höhepunkten zählen.

Die taz-Empfehlung: der doppelte Grubinger mit den doppelten Önders

Wer den erlebt, verpasst Stephan MacLeod. Dessen „Genfer Engel“, deren Ensemble-Name auf italienisch natürlich besser klingt, veranstalten in Ganderkesee ein „Fest für Buxtehude“. Welche Qualitäten das haben kann, war bei der Eröffnung des Musikfests vor einer Woche zu erahnen. Ein konzeptioneller Kniff des Festivals besteht ja darin, dass viele der KünstlerInnen in geballter Form bereits am allerersten Abend zu erleben sind: In drei Zeitschienen geben sie 27 Konzerte rund um den Bremer Marktplatz – eine umwerfende Fülle an Appetizern also, die in den kommenden Wochen intensiviert genossen werden können.

„Gli Angeli Genève“ musizierten im Dom, mit Stephan MacLeod als „Embedded Conductor“. Statt der üblichen Frontal-Konstellation Dirigent versus Ensemble steht MacLeod also mitten im Ensemble, ist als Bassist sowohl Teil des musikalischen Corpus als auch dessen impulsgebender Kristallisationspunkt. Das Ergebnis ist eine in dieser Form selten zu hörende musikalische Homogenität – die sich aus einer, in gewisser Weise gelassen wirkenden, energetischen Durchlässigkeit des Gesamtensembles zu speisen scheint. Kurz: ein gechillter und dabei innerlich tragender Bach statt herbeidirigierter äußerlicher Furiosität.

Intime Intensität war auch beim Klavier-Recital von Olga Scheps im Schütting zu erleben. Ganz dicht darf sich das Publikum im Halbrund um den Flügel gruppieren – um dann zu erleben, wie die junge Russin zwischen Satie’scher Klangmalerei und wildläufigem Chopin alle pianistischen Register zieht. Dass man dabei sogar auf Europas größtem Seidenteppich sitzt, der sich außerhalb musealer Kontexte im öffentlichen Alltagsgebrauch befindet, wissen zwar nur die Wenigsten – gehört aber ebenfalls zu den besonderen Konzertsituationen, die das Musikfest in geradezu verschwenderischer Fülle bietet.

Am Mittwoch muss man sich zwischen dem Improvisations-Konzert im BLG-Forum der Überseestadt und der Deutschen Kammerphilharmonie in der Glocke entscheiden, die unter Kristjan Järvi ein „American Spirit“-Konzert spielt. Tags darauf stehen sogar drei Musikfest-Events zur Auswahl. Die taz-Empfehlung ist der doppelte Martin Grubinger: Vater und Sohn gleichen Namens schlagzeugen zusammen mit dem Percussionisten Alexander Georgiev, hinzu kommen die Pianistinnen-Schwestern Ferzan und Ferhan Önder. Unterm Strich eine Konzertkonstellation, wie sie nur unter Festival-Bedingungen realisiert werden kann.

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