Wir standen nackt im Zimmer, da sagte Rio zu einem der Polizisten: „Du Schwein“

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Rio war mit Abstand der kraftvollste deutsche Sänger, den es gab. Ich kann das natürlich nicht neutral beurteilen; es gibt niemanden, der ihn so oft hat singen hören wie ich – wir kannten uns seit ich 13 war. Er konnte wirklich alles singen. Was man oft vergisst: Er war auch total witzig. Wenn ich schlecht drauf war, persiflierte er irgendwelche Slangs oder Dialekte. Rio war ein Sprachakrobat.

Rio und ich sind in der hessischen Provinz, in Nieder-Roden, gemeinsam aufgewachsen. Wir kannten uns erst ein Jahr, da sind wir in einem Nachbarkaff von fünf oder sechs Dorfjugendlichen verfolgt worden, weil wir lange Haare hatten. Wir waren zusammen auf einer Kirmes, die Typen, so Kleinstadtpsychos, wollten uns die Haare abschneiden. „Ey, Gammler“, haben sie uns beschimpft. Wir sind abgehauen, es war knapp. So etwas verbindet.

Wenn Rio und ich zusammen komponiert haben, gab es immer eine gewisse Spannung. Wir waren zwar beste Freunde, aber auch sehr unterschiedlich. Ich war Katholik, er war evangelisch. Ich sprach Französisch, er konnte besser Englisch. So haben wir uns aber gut ergänzt.

Gelangweilt haben wir uns damals nicht. In der Kommune am T-Ufer (Tempelhofer Ufer in Berlin, d. Red.) gab es ständig Razzien. Es gab diese Deutscher-Herbst-Hysterie, und wir kannten viele Leute aus dem konspirativen Milieu. Einmal standen wir nackt in einem Zimmer, und die Bullen kamen mit gezogenen MGs hinein. Rio sagte zu einem von ihnen: „Du Schwein.“ Da habe ich wirklich Angst gehabt, dass es knallen könnte.

Ich will ja nicht vom Krieg erzählen, aber damals habe ich immer gedacht, am nächsten Tag gehe die Revolution los. Wenn wir mit den Scherben irgendwo gespielt haben, brannte ganz Kreuzberg. Das geschah alles sehr intuitiv, wir waren ja keine politisch-analytische Band. Ich hoffe doch, dass es auch heute noch ein revolutionäres Potenzial gibt, es muss sich nur anders manifestieren.

Als Rio später seine Soloalben veröffentlichte, hat man ihn oft ungerecht bewertet. Er wurde ja unter anderem als Schlagerfuzzi betitelt. Völliger Quatsch. Bei Rios Solokonzert in der Werner-Seelenbinder-Halle im Oktober 1988 habe ich zum letzten Mal mit ihm zusammen auf der Bühne gestanden. Wir haben das erste Mal in der DDR gespielt, das Konzert ist mir gut in Erinnerung. Wegen der Brisanz. Es war kurz vor dem Mauerfall. Wahnsinnsatmosphäre. Rio sang: „Gibt es ein Land auf der Erde, wo dieser Traum Wirklichkeit ist? Ich weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur eins, und da bin ich mir sicher: Dieses Land ist es nicht!“ Ein Großteil der 6.000 Besucher hat enthusiastisch mitgesungen. Gut ein Jahr später war die Mauer Geschichte.

„Jenseits von Eden“ ist der Song, der mich bis heute am meisten berührt. In dem Stück haben Rio und ich gut auf den Punkt gebracht, was Ton Steine Scherben ausmacht. Wenn ich das heute höre, läuft mir ein Schauer über den Rücken, sobald Rio anfängt zu singen. Ich glaube, es ist sehr nachhaltig, was wir gemacht haben. Die Songs und die Themen sind weiterhin aktuell. Es gibt fast tausend Bands, die unsere Songs covern, das ist schon viel.

Vier- bis fünfmal im Jahr gehe ich heute zum Friedhof und bringe Rio Blumen.

R.P.S. Lanrue, 66, ist Gitarrist bei Ton Steine Scherben. Seit 2012 tritt die Band wieder unter altem Namen auf