piwik no script img

Man gleitet hinein, ahnt, folgt, fürchtet, wünscht

Kino-Rarität Wie Binge Watching von Serien: Jacques Rivettes 13-Stunden-Film „Out One“ von 1971 läuft am Wochenende im fsk

Lange war Jacques Rivettes „Out One“ kaum mehr als ein Gerücht. Das Gerücht eines sehr langen Films, kollaborativ entstanden in der freiesten und wildesten Phase des Werks dieses Regisseurs. Im Jahr 1970 in nur sechs Wochen gedreht, einmal in einer Work-in-Progress-Fassung gezeigt, zu einer vierstündigen „Kurzfassung“ montiert, in der Langfassung aber erst 1990 fürs deutsche Fernsehen fertiggestellt.

Seitdem selten gezeigt, dann vor drei Jahren in einer DVD-Edition der Fernsehbänder erschienen, jetzt auch in der 16-mm-Version auf DVD für die Nachwelt erhalten. Im fsk gibt es aus diesem Anlass nun die immer noch seltene Gelegenheit, den Film auf 16 Millimetern zu sehen.

Rivette: Immer Teil des Kerns der Nouvelle Vague, Chefredakteur der Cahiers du Cinéma, zentral als Freund und Inspiration für Godard, Rohmer, Truffaut und die anderen, höchste Anerkennung bei der Kritik, aber fürs größere Publikum stand er immer im Schatten der anderen. Und je näher Truffaut in den siebziger Jahren dem Mainstream kam mit Werken, die sich den Konventionen etwa des Historienfilms auf ganz eigene Art zu nähern versuchten, und je stärker sich Godard gemeinsam mit Jean-Pierre Gorin politisch und ästhetisch radikalisierte, desto weiter entfernte sich Jacques Rivette aus den Bahnen allen Vertrauten mit Filmen, die eigentlich nicht dem glichen, was vorher oder nachher entstand.

Eine einfache Übung

Nun sind fast alle Filme von Rivette lang, aber keiner wie „Out One“ fast dreizehn Stunden. Das klingt heftig, aber für den Serien Binge Watcher von heute ist das in Wirklichkeit eine eher einfache Übung. Und der Vergleich zu Serien liegt keineswegs fern: Rivette hatte zwischendurch sehr wohl die Idee, den Film als eine Art Serie ans Fernsehen zu verkaufen.

Strukturell ist er durchaus wie viele der heutigen, auf durchgehende Entwicklungsbögen setzenden Fernsehserien gebaut, dabei in acht Episoden unterteilt. Zu Beginn jeder der Episoden gibt es in Schwarzweißbildern einen Rückblick auf die Episode davor, es läuft die letzte Minute der vergangenen Folge noch einmal, bevor es dann im Farbbild wieder vorangeht im Plot.

Der allerdings ist einerseits kompliziert. Man folgt zwei freien Theatertruppen bei ihren Proben, und zwar stundenlang. Was großartig ist, wenn man sich für Schauspiel, Gruppendynamik und das freie Fließen der Zeit interessiert. Dazwischen sind ein junger Mann namens Colin (Jean-Pierre Léaud) und eine junge Frau namens Frédérique (Juliet Berto) in Paris unterwegs.

Ein Mann stößt zu einer der beiden Theatergruppen, stiehlt ihr Geld, verschwindet, wird fortan gesucht. Eine Verschwörung im Hintergrund, die nach einer Geschichte von Honoré de Balzac modelliert ist, gibt es mal mehr, mal weniger andeutungsweise. Eric Rohmer erklärt sie in einem Gastauftritt und erklärt sie auch nicht.

Ziemlich lange versteht man nicht recht, aber man muss auch gar nicht verstehen. Wenn man sagen kann, dass es zu einer Auflösung der Verschwörungsgeschichte kommt, dann nur so, wie sich ein Feststoff in etwas Flüssigem auflöst. Und so kann es im besten Fall auch der Zuschauerin ergehen, vorzugsweise im Dunkeln des Kinos, in dem sich das Realitätsprinzip lustvoll dem Fantasieprinzip unterwirft.

Wer sich dem Film und den Darstellern, den oft sehr langen Plansequenzen und dem sich bei aller Langsamkeit bald einstellenden Flow überlässt, den trägt „Out One“ mit Leichtigkeit durch das so reale wie verwunschene Paris der frühen siebziger Jahre. Man gleitet hinein, ahnt, folgt, fürchtet, wünscht, rätselt, liebt, löst sich in dieser anderen Zeit und in diesem anderen Medium auf. Und dann ist gar nichts mehr kompliziert.

Ekkehard Knörer

„Out One“. fsk-Kino, 20. + 21. August, jeweils 11 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen