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Archiv-Artikel

El Greco für die Sch’tis

NEUBAU Kunst statt Kohle: In Lens, im verarmten Norden Frankreichs, eröffnet der Louvre eine Dependance mit hochkarätigen Exponaten

VON RUDOLF BALMER

Internationale Kunstmuseen sind längst Exportartikel geworden, Markenzeichen für Merchandising, Qualitätssiegel für Ausstellungs-Know-how, Anziehungspol für Tourismus und Galerien drum herum. Das Guggenheim hat dank des Architektengenies Frank Gehry eine attraktive Filiale in Bilbao. In Abu Dhabi baut Jean Nouvel eine Luxuszweigstelle des Pariser Louvre, die 2014 eröffnen soll. In Frankreich machen die bekanntesten Pariser Museen auf Dezentralisierung: Kunst geht zu den Bürgern in die Provinz.

Das Centre Pompidou hat so einen Cousin im lothringischen Metz, der zwei Jahre nach seiner Öffnung bereits das meistbesuchte Kunstmuseum außerhalb der französischen Hauptstadt ist. In ähnlicher Weise, so hoffen die Initiatoren, soll jetzt auch die Rechnung in Lens aufgehen, wo Staatspräsident François Hollande eine Außenstelle des Louvre eingeweiht hat. Er ließ seinen Namen zu diesem Behufe auf einer Tafel verewigen und ist besonders stolz auf die kulturpolitische Parallele zu seinem Vorbild François Mitterrand, der die Erweiterung des Pariser Louvre und den Bau der Pyramide in Auftrag gegeben hatte.

Etwas Gegensätzlicheres als den alten Königspalast neben dem Tuilerien-Park im Zentrum der Hauptstadt und diesen abgelegenen, um nicht nicht zu sagen heruntergekommenen Flecken im einstigen Kohlenrevier Nordfrankreichs kann man sich kaum vorstellen. Doch die Diskrepanz gehört zum Konzept. Heute hat Lens, das den meisten Franzosen vielleicht gerade noch wegen seines Erstliga-Fußballklubs etwas sagt, 35.000 Einwohner, die sich fast ausnahmslos als Nachkommen der einheimischen oder zugewanderten Bergleute bezeichnen. Wo jetzt das Museum steht, erhob sich vor nicht langer Zeit einer der höchsten „Terrils“, also Schutthalden aus einer vergangenen Epoche. Von weitem betrachtet sieht der in fünf Elementen konzipierte Flachbau aus Glas und Aluminium des japanischen Architektenpaar und Pritzker-Preisträgerduos Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa (SANAA) wie ein moderner Hangar aus, der Ästhetik und Bestimmungszweck dank der gläsernen Transparenz erst beim Näherkommen enthüllt.

Aber auch so ist der Kulturschock für die Besucher groß. Nie hätten sie sich die „Sch’tis“ im Norden des Landes vorgestellt, dass eines Tages solche exklusiven Kunstschätze aus Paris bei ihnen gleich vor der Haustür ausgestellt würden. Das sagen viele von denen, die sich die Eröffnung für das Publikum am 12. Dezember als Ereignis nicht entgehen ließen. Die wenigsten hatten früher den Louvre in der Hauptstadt besucht. Entsprechend unvorbereitet sind sie jetzt in Lens auf Meisterwerke von Dürer, El Greco, Rubens, Raffael oder Leonardo da Vinci. Niemand soll einwenden können, der Pariser Louvre sei bei diesen Leihgaben für die Demokratisierung des Zugangs zu den Kulturschätzen der Nation knausrig gewesen und habe für die Provinz lediglich zweitrangige Restbestände zur Verfügung gestellt.

Zumindest aus den Schulbüchern kennen aber alle Eugène Delacroix’ Revolutionsgemälde „La Liberté guidant le peuple“, das im neuen Louvre einen zentralen Platz bekommen hat. Die 120 Meter lange „Galerie du Temps“ mit der permanenten Sammlung lädt nach dem ersten Staunen dann zum Verweilen ein. Die Antike von Mesopotamien über das Ägypten der Pharaonen bis zur griechischen und römischen Klassik ist mit 70 Werken aus den Louvre-Beständen vertreten; 45 Ausstellungsobjekte aus Byzanz, der Gotik und auch der islamischen Zivilisation repräsentieren das „Mittelalter“; 90 Werke illustrieren schließlich von der Renaissance bis zur Aufklärung und Klassik den Weg in die Neuzeit.

Trotz dieser Chronologie gebe es keinen „obligatorischen“ Parcours, jeder könne seinen Weg selber auswählen, erklärte Adrien Gardère sein Ausstellungskonzept. Das ist ja eigentlich auch im Pariser Louvre so, der so immens ist, dass – abgesehen von Touristen, die bloß der Mona Lisa wegen kommen – jeder Besucher sich überlegt, wie viele der Abteilungen er verkraften möchte.

Das finanzielle Wagnis des Dezentralisierungsprojekts in Lens hält sich in Grenzen. Der Museumsbau hat 150 Millionen Euro gekostet, für den jährlichen Betrieb sind 15 Millionen Euro budgetiert. Kulturministerium und Louvre-Direktion hoffen, dass sich diese Investition in einer kulturell nicht gerade verwöhnten Region in ähnlicher Weise lohnen wird wie das moderne Centre Pompidou in Metz.

Noch lieber spricht man aber vom „Bilbao-Effekt“. Im Baskenland wurden dank Guggenheim-Museum rund 6.000 Arbeitsplätze geschaffen und Investoren angezogen. Eine vergleichbare touristische und wirtschaftliche Magnetwirkung könnte das einstige Kohlerevier rund um Lens, wo die Arbeitslosigkeit bei mehr 16 Prozent liegt, dringend gebrauchen.

Außerdem hat die Provinz einen Zugang zum europäischen Autobahnnetz und Direktanschluss an die TGV-Linie zwischen Paris, Brüssel und London anzubieten. Die Einwohner des französischen Nordens sind zudem für ihre Gastfreundschaft bekannt, wie auch ausländische Kinogänger spätestens seit der Erfolgskomödie „Willkommen bei den Sch’tis“ wissen. Der Stadtplaner Jean-Louis Subileau, der bereits für die Modernisierung von Lille, der Kapitale des Nordens, zuständig war, träumt von 700.000 Museumsbesuchern pro Jahr in Lens und prophezeit, die Ausstrahlung des Louvre werde das Image dieser Region von Grund auf ändern.