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Der Chefankläger des Pop schmachtet

KONZERT Morrissey gastierte am Dienstag im ausverkauften Berliner Tempodrom

„I remain“, mit diesen Worten beginnt Steven Patrick Morrissey am Dienstagabend auf der Bühne im Berliner Tempodrom seinen Auftritt, ehe er eine Kunstpause einlegt, kaum länger als ein Wimpernschlag, und fortfährt: „… til the very last glimpse I remain … yours.“ Wieder Kunstpause.

Er bleibt bis zum letzten Augenblick unser Morrissey, Mozzer unser, sozusagen – so die freie Übersetzung. Während er bleibt, hat sich sein Land für „leave“ entschieden. In einem doppelten Sinn weist der Auftakt des Abends auf einen Morrissey voraus, der ganz bei sich und auf der Höhe seiner Kunst ist. Denn bei dem britischen Popstar mit der grau melierten Tolle, die tapfer wie eine Insel gegen das Meer der Geheimratsecken drum herum ankämpft, wurde vor zwei Jahren Speiseröhrenkrebs diagnostiziert; ­seither kämpft er mit der Krankheit.

Er bleibt aber, zur Freude der rund 4.000 Menschen in der Halle. Das Konzert des 57-jährigen Exsängers von The Smiths war längst ausverkauft, die Marke Morrissey zieht. In der Mehrzahl scheint das Publikum aus Briten und Deutschen zu bestehen, etwa ein Viertel der Anwesenden trägt Hemdchen mit Morrissey-Konterfei. Es sind gar Jeanskutten mit „The Smiths“-Bügelaufnäher zu sehen, ein Relikt aus vergangenen Zeiten.

Morrissey aber ist mehr als ein Relikt aus der Vorzeit. Mit „Suedehead“ beginnt der Altmeister das Set, und sobald er die Verse „I’m so sorry“ intoniert, merkt man: Seine Stimme, die aus den Tiefen seines Bauches das Elend der Welt in Laute übersetzt, ist besser denn je. Sie thront über allem, füllt die zirkuszeltartige Halle bis in den letzten Winkel. Bei einigen Songs fragt man sich, ob man nicht die Kosten für die Band hätte sparen können, so verhalten bleiben die Instrumente dahinter zurück.

Alle Spots auf den Chef also. Der, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem im Dekolleté baumelnden Kreuz, spielt mit großen Gesten und ausholenden Armbewegungen ein Potpourri aus seinem Soloschaffen. Bei „Ganglord“, einem Song über Gewalt und Korruption, läuft auf der Leinwand ein Video, das vor allem Übergriffe von US-Polizisten gegen Schwarze zeigt. Bei „I’m Throwing My Arms Around Paris“ ist im Hintergrund einfach nur eine französische Flagge zu sehen.

Kurz darauf kommt der agitatorische Teil des Vegetariers Morrissey. Während er „Meat Is Murder“, einen von zwei Smiths-Songs, spielt, sind Aufnahmen von geschredderten Küken, dem Branding von Kühen und Bolzenschussgeräte zu sehen. Brutale Videos, bei denen manche wegsehen. Nach dem Song ist in Weiß auf Schwarz zu lesen: „Was ist ihre Entschuldigung? [sic] Fleisch ist Mord“.

Morrissey ist eben nicht nur Chef, er ist auch der Chefankläger am Internationalen Gerichtshof des Pop. Der Gestus moralischer Überlegenheit, mit dem er seine – richtigen – Anliegen vorträgt, ist teilweise schwer zu ertragen. Und populistische Phrasen à la „All politicians are criminals“ braucht gerade in Trump-Zeiten niemand.

Das gesungene ist da dem gesprochenen Wort überlegen. Die hymnische Mitsummnummer „Everyday Is Like Sunday“ wird und wird nicht schlechter – das Publikum mag sich an Thatcher- und Kohl-Zeiten erinnern und daran, dass das Leben früher einmal langsamer war. Nach einem Zugabesong bricht der Maes­tro das Konzert nach eineinhalb Stunden ab. Zack, bum, Saallicht an.

Man munkelt ja, es könnte Morrisseys letzte große Tour sein. Möge es beim Gemunkel bleiben. Denn wer bitte soll sonst so elegant das Mikrofonkabel wie ein Lasso schwingen? Wer außer ihm kann mit so viel Pathos seine Augenbrauen, die noch buschiger sind als die von Theo Waigel, hochziehen? Wer könnte auch nur annähernd so große Oper geben wie er? Remain, Mozzer, remain.

Jens Uthoff

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