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Eine Leiche namens Manny

KINO Das ursprünglich als subkulturelles Event in Hamburg gegründete Fantasy Filmfest feiert sein 30-jähriges Bestehen

von Thomas Groh

Wer „Swiss Army Man“ gesehen hat, wird nicht mehr ohne Weiteres behaupten können, dass es zur Verkörperung einer Leiche kein schauspielerisches Talent braucht. Zahlreichen „Tatort“-Komparsen spendet dies Anlass zur Hoffnung. Daniel Radcliffe jedenfalls, bekannt geworden durch die „Harry Potter“-Reihe, spielt diese Leiche, die das Meer zu Beginn an den Strand einer einsamen Insel spült und damit unter die Augen deren gezwungenermaßen einzigen Bewohners Hank (Paul Dano), mit so viel hinreißender Hingabe an die motorische Verweigerung, dass es staunen und rätseln macht: Wo mögen die Gliedmaßen dieses schlicht Verfügungsmasse gewordenen Körpers als Nächstes landen? Wie mögen die Gesichtszüge als Nächstes entgleisen? Und warum eigentlich beginnt die Leiche nach einer Weile, wenn auch ihrer Natur gemäß ungelenk, zu sprechen?

Für Hank kommt diese Leiche namens Manny zur günstigsten Zeit: Gerade will er seinem tristen Dasein als moderner Robinson ein Ende bereiten, als dieser leblose Freitag ihm einen Ausweg aus seiner Lage eröffnet: Mannys blubbernde Leichengase machen den Körper zum perfekten Jetski, der es Hank gestattet, unter Jubeln die Distanz zum Festland zu meistern. Auch dort, in der Wildnis, erweist sich der erst leblose, dann märchenhaft beseelte Leichnam dem Filmtitel gemäß als „Schweizer Taschenmesser-Mann“ mit lebenserhaltenden Fähigkeiten: Was man ihm in den Hals rammt, katapultiert er wie ein Geschoss wieder heraus; seine Zähne eignen sich zur Bartrasur; das gestaute Wasser in ihm macht ihn zum perfekten Wasserspender; etc. pp. Kurz: Hank und Manny werden beste Freunde.

Was sich wie alberner Quatsch liest, ist in Wahrheit ein kleines Filmwunder: „Swiss Army Man“, unter dem Pseudonym Daniels von Dan Kwan und Daniel Scheinert inszeniert, ist vielleicht der einzige Film, der ausgiebige Furzwitze mit einem philosophischen Überbau verbindet und aus einer derart beknackten, zur Splatterkomödie verleitenden Prämisse ein anrührendes, zärtliches, jede Ekstase umarmendes und noch dazu bestrickend queeres Märchen über Freundschaft, Zuneigung und gesellschaftliches Außenseitertum zimmert. Denn Manny hat keinerlei Erinnerung mehr daran, was es heißt, ein gesellschaftliches Wesen zu sein. Mit zahlreichen Verrenkungen und dem Material, das ein vermüllter Wald hergibt, vermittelt Hank der naiv von der Liebe träumenden Leiche in den schönsten Momenten dieses tollen Films, wie widersprüchlich und entbehrungsreich es ist, ein Zoon politikon zu sein.

Zu sehen ist „Swiss Army Man“ als Eröffnungsfilm des Fantasy Filmfests, das in diesem Jahr sein 30-jähriges Bestehen feiern kann. Wie auch die Filmlandschaft selbst hat sich auch das Festival im Lauf dieser Zeit deutlich verändert. 1986 als subkulturelles Event in Hamburg gegründet, zeigte man damals vor allem Klassiker des fantastischen Films. Später wandelte man sich zur Aktualitätenschau des Genres – analog dazu, dass auch Horror, Science-Fiction und Fantasy, lange Zeit Geeks und Nerds vorbehalten, zusehends in den Mainstream Einzug hielten. Längst operiert das Fantasy Filmfest in einer Twilight Zone aus verträumt-fantasievollem Mainstream (sogar die fabelhafte Amélie hatte 2001 hier ihre Vorpremiere), derber Genrekost zwischen Dämonenhatz mit Dolph Lundgren und Zombies in Südkorea sowie avancierter Filmkunst.

„Swiss Army Man“ verbindet ausgiebige Furzwitze mit philosophischem Überbau

Für Letzteres steht in diesem Jahr insbesondere „The Eyes of My Mother“ von Nicolas Pesce, eine düstere, minimalistische American-Gothic-Serienkillerin-Ballade, die sich in gediegenem Schwarzweiß und in hypnotisch langen Einstellungen auf einer Ranch im amerikanischen Hinterland abspielt. Unter weitgehendem Verzicht auf genretypische Psychologisierungen und mit deutlichem Augenmerk auf die visuelle Faszinationskraft morbider Motive erarbeitet Pesce hier so etwas wie eine entschlackte, Sensationalismen bewusst aussparende und zudem Gender-gespiegelte Version der Ed-Gein-Geschichte, die weniger auf Drastik als vielmehr auf dezente, visuelle Lyrik setzt, unter deren Oberfläche es allerdings mulmig brodelt.

Der Kontrast zum jauchzend lebensbejahenden „Swiss Army Man“ könnte kaum prägnanter ausfallen. In dieser Dynamik liegt das Geheimnis dessen, was das Fantasy Filmfest auszeichnet, verborgen.

Fantasy Filmfest Berlin: Cinestar im Sony Center, Potsdamer Straße 4, 17.–22. 8., Programm: www.fantasyfilmfest.com

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