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Die Zentrifugen des Spektakels

TanzBeim Wiener Impulstanzfestival fragen Liquid Loft und Florentina Holzinger mit zwei höchst unterschiedlichen Aufführungen nach dem Ensemble im Zeitalter des Prekariats

von Uwe Mattheiß

Der Nebel legt sich langsam zwischen den Säulen des Wiener Odeon-Theaters. Wo Chaos war, durchmessen nun feine grüne Laserstrahlenbündel den Raum. Auf dem Boden kugeln sich PerformerInnen in schwarzen Müllsäcken wie etwas groß geratene urzeitliche Tierchen. Die Quellen des Lichts tragen sie je nach Präferenz und Vermögen vaginal oder rektal eingeführt. Florentina Holzinger, Annina Machaz, Nils Amadeus Lange, Vincent Riebeek und Manuel Scheiwiller eröffnen „Body + Freedom“, uraufgeführt beim Wiener Impulstanzfestival mit einer veritablen Schöpfungsgeschichte.

Es folgt die lustvoll-aggressive, bisweilen verzweifelte Attacke auf den Nihilismus des Unterschichtfernsehens – verbunden mit der Frage, ob die Kunst noch das „ganz Andere“ des Spektakel sein kann. Machaz heizt das Publikum an, sich gemäß der Vorgabe einer fiktiven Aufzeichnung einer Unterhaltungssendung zu verhalten: Jubeln, Buhen, La-Ola-Machen. Fun ist vielleicht nicht mehr Stahlbad, aber noch immer ein Haufen Arbeit. Es folgen die üblichen Wettbewerbe und Eliminationsspiele im gestrengen Marschtakt der Moderation. Das einstmals unschuldige Vergnügen wird zum Exerzierfeld, auf dem die Spielregeln der Macht bei der Strafe des Nicht-Gesendet-Werdens einzuverleiben sind. Alles ist nur noch etwas grindiger und fragwürdiger, als man es sonst sieht: die Shitbucket-Challenge mit einem Eimer grünem Algenglibber, das Vor-Publikum-Furzen-Müssen für die Verliererin beim Kreativsackhüpfen.

Kann man tatsächlich die Zentrifugen des Spektakels zum Überdrehen bringen, wenn man ein paar unvorhergesehene Inhalte in sie hineinwirft, oder wiederholt sich hier nur der alte Theaterfehler, die Darstellung des Dargestellten allein schon für Kritik zu halten? Auch ohne Vorhang bleiben alle Fragen offen.

Wenige Tage später im Akademietheater zeigt der Wiener Choreograf Chris Haring mit der Gruppe Liquid Loft einen gänzlich anderen Umgang mit medialen Bildvorgaben. Tanz ist bei Haring tatsächlich „liquide“ geworden. Der choreografische Prozess wird zum alles einverleibenden Aggregat, das Bilder, Töne, Geräusche, Sprach­partikel, musikalische Einträge in sich hineinzieht und ebenso wie die Körper in ihrer Präsenz und ihren Bewegungsmustern analytisch erfasst und rekombiniert. Das akustische Umfeld, das Haring in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Andreas Berger entwickelt, definiert und erweitert den choreografischen Raum mit den vorgefundenen Verhältnissen und bisweilen auch gegen sie. Das aktuelle Stück „Candy’s Camouflage“ existiert auf diese Weise in zwei Aggregatzuständen, als abendliche Aufführung für den traditionellen Theaterraum und als mehrstündige Performance im Kommen und Gehen des Publikums in einer Ausstellungsetage bei Impulstanz im Wiener Leopold-Museum.

Manuel Scheiwiller berichtete von den Wohltaten eines Schweizer Mindestlohns für KünstlerInnen

„Candy’s Camouflage“ ist Teil einer Auseinandersetzung der Gruppe mit den Filmarbeiten von Andy Warhol. Die Zerstörung der Zentralperspektive durch den split screen, die reine Präsenz der DarstellerInnen in den „Screentests“ (1964–1966), die Fokussierung auf den scheinbar unbedeutenden Alltagsvollzug, diese Ankerpunkte aus den Arbeiten Warhols finden sich in der aktuellen Arbeit verwandelt wieder. Candy Darling aus dem Film „Flesh“ (1968) ist nur noch abwesende Namensreferenz. Es bleiben die Mittel des Tarnens und Täuschens, die die Imagination des Weiblichen aufbauen, mutieren lassen und infrage stellen. Der kinematografische Apparat, der die Körper einst in den Fallstricken der symbolischen Ordnung fesselte, ist auf Handflächengröße geschrumpft. Stephanie Cumming, Katharina Meves und Karin Pauer entzünden mit zwei Kameras, drei Scheinwerfern und einer doppelten Projektionswand eine Explosion der Bilder, in der die realen Körper mit ihren irrlichternden Abbildern zu einem choreografischen Hybrid verschmelzen.

Über alle Unterschiede hinweg verbindet beide Projekte das Festhalten am Ensemblebegriff. Arbeiten, die ein mittleres Theater füllen und dennoch einen unabgeschlossen zeitgenössischen Diskurs führen, sind im diesjährigen Programm eine eher rückläufige Spezies, was man dem Festival selbst wohl am wenigsten vorwerfen kann. Es ist einerseits geprägt von den großen Gastspielen, die nach dem erzwungenen Sparprogramm des Vorjahrs wieder nach Wien zurückgekehrt sind, und andererseits vielen kleinen, hochspezialisierten Projekten, die brennende künstlerische Fragen in elaboriertester Form vor Fachpublikum verhandeln.

Das ist keineswegs nur Resultat einer kunstimmanenten Tendenz zur Spezialisierung, sondern vor allem eines von Förderpolitik. Manuel Scheiwiller berichtete in der Performance „Body + Freedom“ notgedrungen zur Beschämung der meisten anderen Förderstellen von den Wohltaten eines Schweizer Mindestlohns für KünstlerInnen. Neoliberalismus macht die darstellende Kunst besonders arm. Abhilfe tut not. In Österreich hat der neue Kunst- und Kanzleramtsminister Thomas Drozda (SPÖ) nach vielen Jahren des Stillstands einen „New Deal“ für die Freien Szene versprochen. Auch in der Stadt Wien entscheidet sich, wie es mit der einst florierenden Szene weitergeht. Die Leitung des Tanzquartiers, einst das Synonym für die Qualitätsexplosionen im Wiener Tanz, wird neu besetzt. Neue vierjährige Förderzeiträume – sie gibt es hier noch für freie Gruppen – entscheiden darüber, ob professionelle Ensemblearbeiten in Zeiten wie diesen noch möglich sind.

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