Bei mir nebenan sitzt ein Bettler. Seit einiger Zeit grüßen wir uns
: Der Vorstadt-Film

Foto: privat

AM RAND

Klaus Irler

Vor der Endhaltestelle der U2 sitzt ein Bettler. Er sitzt mit Blick auf den Supermarkt. Vor sich hat er einen Pappbecher, der an einem Stab hängt. Damit die, die ihm was geben wollen, sich nicht so tief bücken müssen. Der Bettler hat dort seinen festen Platz, er ist jeden Tag da, auch jetzt, wo die Stadt halb leer ist. Er sitzt immer an der exakt gleichen Stelle, kommt gegen neun und geht gegen sechs.

Der Bettler und ich grüßen uns seit einiger Zeit. Erst dachte ich, es mag daran liegen, dass wir etwa gleich alt sind. Dann aber sah ich, dass er alle Leute grüßt, die einen Blickkontakt zulassen. Er hat sich diesen Platz an der Endhaltestelle gewählt, weil er da gute Chancen hat, immer die gleichen Leute zu sehen und Grüß-Beziehungen aufzubauen.

Wenn man ihn fragt, wie es ihm geht, erzählt er seine Geschichte. Er sei aus Rumänen, sagt er, er kann keine deutschen Sätze, nur einzelne Wörter. Drei Kinder, Haus abgebrannt. Keine Arbeit, kranker Rücken. Nun sei er hier. Wo er schläft, habe ich ihn gefragt. Er sagte: „Park.“

Der Bettler ist immer zu dick angezogen, selbst an den Sonnentagen hat er eine Decke über den Beinen und trägt eine Jacke. Die Hitzephasen machen ihm sichtbar zu schaffen, aber ich habe ihn noch nie im T-Shirt gesehen. Es ist, als wollte er das, was er hat, zusammenhalten.

Von seinem Platz aus sieht der Bettler den ganzen Tag Leute in den Supermarkt gehen und wieder herauskommen. Er sieht Kinder, die mit der Mini-Lokomotive vor dem Eingang fahren dürfen und alte Leute, die Hunde anbinden. Er sieht die Fahrschule mit den Motorrädern davor. Er sieht das alles nicht nur, er beobachtet es. Als ich einmal vorbeikam und ein Gurt aus meinem Fahrradanhänger hing, winkte er mir wild zu und rief: „Achtung!“

Der Bettler sieht selten gut aussehende Menschen, kein internationales Publikum und keine schrägen Vögel. Er sieht den ganzen Tag Alltag im Vorstadtformat. Noch nicht mal von den Umland-Pendlern bekommt er etwas mit, denn die Busstationen sind auf der anderen Seite der U-Bahn-Haltestelle.

Etwas Aufregendes zu sehen, interessiert den Bettler nicht. Schulterblatt, Jungfernstieg, Landungsbrücken – dort gäbe es Party, Business-Leute, Touristen, Punks und Studenten. Alles wäre bunt und wild. Aber das will er nicht. Er will den Alltag in der Vorstadt.

An einem sonnigen Samstag, als die Leute gut gelaunt waren, habe ich beobachtet, dass der Bettler auch ab und zu Geld bekommt. An den Sonntagen ist er nie da. Da ist Wochenende.