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Wette auf die Offenheit

WUNDERTÜTE Kampnagels „Internationales Sommerfestival“ setzt dieses Jahr auf spannende Kollaborationen, vielfältige Komplizenschaften und Querverbindungen zwischen Entertainment, Avantgarde und Pop

von Robert Matthies

In atemloser Geschwindigkeit rennt der 22-köpfige Schwarm von TänzerInnen kreuz und quer über die Bühne. Ununterbrochen jagen sie sich, stoßen sich voneinander ab, umspringen einander, reißen sich mit. Es ist ein großer gemeinsamer Anlauf, um die Grenzen des Physischen hinter sich zu lassen und den Aufstieg in die Lüfte zu wagen. „Auguri“ heißt dieses energiegeladene Tanzstück des französischen Choreografen Olivier Dubois, mit dessen Welturaufführung am Mittwoch in der großen Halle K6 das diesjährige „Internationale Sommerfestival“ auf Kampnagel eröffnet wird.

Auguren, so hießen im antiken Rom die Priester, die aus dem Flug und vielstimmigen Geschrei von Vögelschwärmen die Zukunft lasen. Augurio, das ist auch im heutigen Italienisch noch das Wort für gute und böse Omen – aber auch für den Wunsch: „Auguri“ ruft man sich zu, wenn man einander freudig grüßt und Glück wünscht.

Tatsächlich soll auch das bildkräftige Spektakel, mit dem Dubois eine vierteilige tänzerische Untersuchung großer Menschheitsfragen beschließt, beides zugleich sein: ein choreografiertes Orakel der Menschheitsgeschichte im Spannungsfeld von Warnung und Utopie und ein dionysisch-ekstatischer Gruß als Einladung zu einem großen kathartischen Fest – der gemeinsame Aufstieg in die Lüfte als Auferstehung und Erlösung.

Vor drei Jahren war Dubois bereits mit seiner Choreografie „Tragédie“ beim Sommerfestival zu Gast. Streng formal begann das aus drei Sätzen bestehende Stück als Marsch nackter Körper und steigerte sich allmählich in einen mitreißenden Taumel ekstatischer Körperknäuel. Es ist diese Verknüpfung von klarem Konzept und spektulärer Leichtigkeit, die auch „Auguri“ auszeichnet und Dubois’Stück zum perfekten Auftakt für das zweieinhalb Wochen dauernde Festival macht.

Denn genau darin sind Dubois und András Siebold, der das Festival zum vierten Mal als künstlerischer Leiter kuratiert hat, Brüder im Geiste: Obwohl es auf verschiedenen Ebenen einem klaren Konzept folgt und sich großen politischen, gesellschaftlichen und künstlerischen Fragen der Gegenwart widmet, ist es keine exklusive Veranstaltung für verkopfte Avantgarde-SpezialistInnen. Sondern ein großes Fest der Sinne, in dem Tanz, Theater, Performance, Kunst, Theorie und engagierte Diskussion ebenso zusammenfließen wie Kunstgeschichte, Avantgarde und Pop.

Waghalsige Experimente

Dabei ist es – auch darin Dubois’„Auguri“ nicht unähnlich – im Grunde ein waghalsiges Unternehmen. Denn statt sich auf längst Bekanntes und Berechenbares zu verlassen, setzt Siebold ganz auf die einzigartigen Bedingungen, die Kampnagel bietet: auf die Möglichkeit, oft über Jahre Kollaborationen zu entwickeln, nicht auf den ersten Blick erkennbare Komplizenschaften zu entdecken, gemeinsam Neues zu produzieren und auf die Offenheit des Publikums zu wetten.

Etliche Uraufführungen sind denn auch dieses Jahr zu erleben – gleich neun sind es schon am ersten Abend: „The Greatest Show on Earth“ heißt die Riesenproduktion, die sich vorgenommen hat, den Zirkus neu zu erfinden und ihm den Nimbus allzu leichter Unterhaltungskost zu nehmen. 14 KünstlerInnen, die eigentlich nicht dafür bekannt sind, Auftragsarbeiten zu übernehmen, hat Siebold gebeten, mit ihren Mitteln kurze, spektakuläre Entertainmentformate zu entwickeln.

Der französische Theatermacher, bildende Künstler und Bühnenbauer Philippe Quesne baut dafür eine Manege in die Kampnagel-Vorhalle, in der unter anderem das für seine transgressive Ästhetik berüchtigte Choreografen-Duo Florentina Holzinger und Vincent Riebeek eine Trapezshow zeigen, die japanische Kampf-Kunst-Kombo Contact Gonzo sich verhaut und Valérie Castan und Antonia Baehr sich selbst dressieren.

Vermeintlich leichte Entertainment-Formate werden mit anderen Inhalten aufgeladen

Spaß beim Entdecken

Das ist nur einer von unzähligen Fäden, die sich kreuz und quer durchs ganze Programm ziehen: vermeintlich leichte Formate mit gegenwärtigen Kunstentwicklungen und anderen Themen aufzuladen. Der Hamburger Musiker und Musikproduzent Thies Mynther, um nur ein weiteres Beispiel zu nennen, ist Musicalfreak. Gemeinsam mit dem israelischen Regisseur Jason Danino Holt und einer Schar illustrer Hamburger MusikerInnen hat er also ein Musical entwickelt. Allzu leicht bekömmlicher Stoff ist das aber nicht: Im Zentrum des Stücks steht Georgina Spelvin, früher Broadway-Ballerina und später eine der bekanntesten Porn-Chic-Divas.

Zu prall gefüllt ist das Programm, um all diese Fäden auch nur anzureißen. Zwei noch, um den Spaß beim Entdecken nicht zu verderben: Achten Sie auf die Verbindungen von japanischer Gegenwartskultur und der Beschäftigung mit Phänomenen der digitalen Welt. Bester Einstiegspunkt: die Pop-Oper „The End“ des japanischen Musikers Keiichiro Shibuya, deren Text wiederum von einem der wichtigsten japanischen Theatermacher, Toshiki Okada, stammt.

In deren Zentrum steht Japans größter Popstar, Miku Hatsune. Die ist (nur) eine virtuelle Figur, eine synthetische Pop-Ikone, entworfen als Maskottchen der Software Hatsune Miku, einer künstlichen Gesangsstimme. Mehr als 100.000 Songs hat sie schon gesungen und ist damit, wie man im Pop-Geschäft sagt, unsterblich geworden. Genau das aber ist im Stück ihr Problem: Die ewige 16-Jährige hat Todessehnsucht.

Mi, 10. 8., bis So, 28. 8., Kampnagel

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