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Blicke ins Vergehende

Retrospektive Das Kino Arsenal zeigt die alljährliche Werkschau des sowjetischen Regisseurs Andrej Tarkowskij

von Carolin Weidner

Traditionen soll man pflegen, heißt es. Besonders die schönen. Auch Kinos tun dies hin und wieder. Zum Beispiel das Arsenal, das jeden Sommer das Gesamtwerk des sowjetischen Regisseurs Andrej Tarkowskij präsentiert. Seit 25 Jahren zeigt das Kino zwischen Juli und August seine sieben langen Filme ebenso wie den mittellangen Diplomfilm „Die Walze und die Geige“ (UdSSR 1960). Manche sagen, sie würden sich jedes Jahr neu auf Tarkowskij einlassen und immer könnten sie etwas entdecken, das ihnen zuvor entgangen war.

Schwer vorzustellen ist das nicht: Tarkowskijs Filme sind verschachtelt und labyrinthisch, reich an Anspielungen und Poesie. Es sind Filme, die an jeder Stelle angehalten werden könnten. Das, was man dann zu sehen bekäme, wäre ein eigenes, vollwertiges Portal in diese faszinierende, oft unheimliche Welt. Gleichsam ist es eine komplizierte, denn es scheint, als hätte man uneingeschränkten Zutritt in den Gedankenraum einer fremden Person. Tarkowskij gibt sich in seiner Arbeit preis. Er, der 1986 nur 54-jährig in Paris an Krebs starb, war ein zugänglicher Autor, auch wenn das, in Anbetracht seines komplexen Werkes, paradox erscheint.

Zwei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte Tarkowskij seine Schrift „Die versiegelte Zeit – Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films“, die tiefe Einblicke in seine Arbeitsweise und Auffassung von Kino gewährt. In der Einleitung schreibt er: „Der beharrliche Wunsch der Zuschauer, das filmische Erlebnis, das ihnen meine Arbeit vermittelte, zu begreifen und Antwort auf ihre zahllosen Fragen zu finden, veranlassten mich, meine widersprüchlichen und ungeordneten Gedanken über den Film und über die Kunst schlechthin auf einen Nenner zu bringen.“ Glücklicherweise können seine Ausführungen dennoch nicht alle Fragen klären. Wie auch? Es ist eine Unmöglichkeit. Tarkowskij weiß, weswegen: „In der Praxis seines Lebens zieht der Mensch unweigerlich das eine dem anderen vor, wählt aus, und stellt das Kunstwerk in den Kontext seiner persönlichen Erfahrung. Und so, wie jeder Mensch in seinem Handeln unwillkürlich pragmatisch verfährt, das heißt im Großen wie im Kleinen seine eigene Wahrheit verteidigt, so behandelt er auch ein Kunstwerk nach eigenem Belieben.“

Tarkowskijs Filme sind labyrinthisch, reich an Anspielungen und Poesie

Jenes Belieben macht diese Filme veränderlich. Obendrein sind sie Tore in die Vergangenheit, obschon selbst diese veränderlich ist und tatsächlich fühlt man sich bei Tarkowskij stets auf wackligem Boden. Alles verschmilzt in den teils surrealen Landschaften und Strukturen. Zeit gilt nichts mehr, Wände existieren und bald nicht mehr, werden unsichtbar, ein Schwenk mit der Kamera und Zeit ist vergangen. In „Der Spiegel“ (UdSSR 1975) ist Tarkowskij ein kleiner Junge, dann liest der berühmte Vater Arseni Tarkowskij aus einem seiner Gedichte. „Das Schicksal folgt uns wie ein Amokläufer“ geht eine Zeile. Irgendwo hängt dann plötzlich noch ein Filmplakat von „Andrej Rubljow“ (UdSSR 1966–69), Tarkowskijs monumentalem Cinemascope-Film, der das Leben des gleichnamigen Ikonenmalers zum Inhalt hat. Ins vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert führt einen dieser Film, in soziohistorisches Schwellengebiet und auch, wieder, hinein in Geist und Wesen des Künstlers, der mit Politik, Gesellschaft, mit sich selbst kollidiert und kollidieren muss. Andrej Tarkowskij verflechtet sämtliches zu einem Möbiusband ohne Anfang und Ende, aber mit einigen Wegweisern, Wegmarkern.

Das ist ein Filmschaffen, das in der Sowjetunion keine Anerkennung erfuhr. „Nostalghia“ (Italien/UdSSR 1983) etwa, Tarkowskijs einziger im Ausland realisierter Film, ist daher auch ein Produkt dieses Umstands. In ihm reist der Dichter Andrei Gortschakow (Oleg Jankowski) nach Italien, um über den Komponisten Pawel Sosnowski zu schreiben – ebenfalls ein Landflüchtiger. An seiner Seite: Übersetzerin Eugenia (Domiziana Giordana). „Nostalghia“ erzählt von transitartigen Zuständen, er zeigt ein feuchtkaltes, vernebeltes Italien, das Eugenia an „Moskau im Herbst“ erinnert. Ein Erinnerungsbild von besonders anmutiger Prägnanz. Vielleicht verhält es sich ähnlich mit den Filmen Tarkowskijs, die gleichzeitig unendlich viel mehr sind.

Retrospektive 
Andrej Tarkowskij: Kino Arsenal, Potsdamer Straße 2, noch bis zum 23. 8., www.arsenal-berlin.de

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