: „Unverschämt“
Zehn Morde werden der Terrororganisation NSU vorgeworfen. Noch nach dem neunten Mord im Jahr 2006 lehnte es die Bundesanwaltschaft ab, zu ermitteln. Sie schloss rechtsextreme Tatmotive aus und sprach von einem privaten Rachefeldzug eines Einzeltäters. Wenn es den Untersuchungsausschuss des Bundestags nicht gäbe, wäre das nicht bekannt geworden
von Thomas Moser
Er ist weniger als ein Gericht, und er ist mehr. Er kann kein Urteil verhängen, aber er kann aufklären. Er hat Unterlagen zur Verfügung und Möglichkeiten, daraus zu zitieren, die die von Richtern übertreffen. Der Ausschuss lädt Präsidenten von Nachrichtendiensten vor, von Polizei- und Sicherheitsorganen, Vertreter der Bundesanwaltschaft und aus Ministerien. Er seziert den Komplex, operiert Informationen heraus. Was hier seit Januar 2012 zutage gefördert wird, ist weniger ein System des Versagens der Sicherheitsbehörden als eines der Verstrickung. Das erklärt die Vertuschungs- und Verschleierungsinteressen, die der Ausschuss ebenfalls wiederholt entlarvt. Und es erklärt die Angriffe der Exekutive auf ihn. In Wahrheit hat sie den Ausschuss nie gewollt.
Es ist Sitzung Nummer 44, 30. November, in der Christian Ritscher, 15 Jahre Oberstaatsanwalt bei der Karlsruher Bundesanwaltschaft, als Zeuge vor dem Gremium erscheint. Der 48-Jährige arbeitet derzeit im Bereich Völkerstrafrecht. Im Jahr 2006 war er für Straftaten mit rechtsterroristischem Hintergrund zuständig. Im April 2006 wurde in Kassel der neunte Mord verübt. Die Opfer, acht türkische und ein griechischer Gewerbetreibender, wurden alle mit derselben Pistole erschossen. In Kassel kam es im Mai 2006 zu einer Demonstration vor allem türkisch-deutscher Familien unter dem Motto: „Kein zehnter Mord!“ In der Öffentlichkeit war der Zusammenhang klar.
Im August 2006 legte die Bundesanwaltschaft einen Prüfvorgang an, um zu klären, ob sie für die Mordserie zuständig ist. Anlass waren Presseberichte, wie Oberstaatsanwalt Ritscher dem Ausschuss erklärt. Er nahm für seine Prüfung Artikel der Süddeutschen Zeitung, von Spiegel Online, Welt und Bild sowie die Internet-Webseite des Bundeskriminalamts (BKA) – und kam zu dem Ergebnis, eine Zuständigkeit des Generalbundesanwalts liege nicht vor. Ein rechtsextremes Motiv des(!) Täters sei nicht erkennbar. Es gebe keine Anhaltspunkte für Fremdenfeindlichkeit. Die Taten seien Ausdruck eines privaten Rachefeldzugs.
„Ein Täter“, „keine Fremdenfeindlichkeit …“– die Abgeordneten zeigen Unverständnis. „Wir haben das schulmäßig durchgeprüft“, sagt Ritscher. Die vier Zeitungsquellen sind Internetausdrucke.
Sebastian Edathy, SPD, Ausschussvorsitzender: Hat das jemand gegoogelt? Waren Sie das?
Keine Antwort.
Edathy: Machen Sie sich kein umfassendes Bild? Nehmen Sie nur Medienberichte zur Kenntnis, um die Zuständigkeit des Generalbundesanwaltes zu prüfen?
Christian Ritscher, Oberstaatsanwalt bei der Bundesanwaltschaft: Normalerweise nicht. Normalerweise fahren wir zu den Tatorten und sprechen mit den Staatsanwaltschaften vor Ort.
Stephan Stracke, CSU, stellvertretender Ausschussvorsitzender: Und warum in diesem Fall nicht?
Ritscher: Weil die Prüfung ergab, dass kein Staatsschutzdelikt vorliegt.
Stracke: Aber Sie schreiben auf Seite fünf Ihrer Abschlussbewertung zunächst, die Taten würden eine rechtsextreme Haltung des Täters nahelegen und seien geeignet, die öffentliche Sicherheit zu beeinträchtigen.
Ritscher: Der Umstand, dass alle Opfer einen Migrationshintergrund haben, führte dazu, dass dieser Prüfvorgang überhaupt angelegt wurde. Wenn alle Opfer Deutsche gewesen wären, weiß ich nicht …“
Wolfgang Wieland, Bündnisgrüne: Sie schreiben in Ihrem Bericht, die Polizeibehörden würden davon ausgehen, dass die Taten durch negative Erfahrungen des Täters mit Türken ausgelöst wurden.
Keine Antwort.
Wieland: Davon war bei der Polizei nie die Rede. Das haben Sie doch falsch zusammengefasst, oder?
Ritscher: Ich kann Ihnen damit nur recht geben.
Wieland: Und dann haben Sie daraus noch das zentrale Ablehnungsargument gemacht. Der Täter mordet aus Hass auf Türken, aber aus einem persönlichen Motiv heraus. Ist das etwa kein Rassismus?
Ritscher: Ich gebe Ihnen recht. Ich würde es heute anders machen.
Eva Högl, SPD: Ich habe es immer noch nicht verstanden. Wie kamen Sie zu der Schlussfolgerung, es gebe keine Anhaltspunkte für fremdenfeindliche Motive, ohne dass Sie vor Ort waren, ohne dass Sie Gespräche mit Staatsanwälten führten?
Ritscher: Ich habe den Vermerk ja nicht alleine geschrieben. Der ist im Team entstanden.
Högl: Wer war das Team?
Ritscher: Außer mir Staatsanwalt Michael Gröschel und der Referatsleiter, Bundesanwalt Bernd Steudl.
Högl: Und die Grundlage für die Entscheidung der Generalbundesanwaltschaft ist dann ein Artikel in der Süddeutschen Zeitung?
Ritscher: Es gab ja auch noch die anderen Artikel.
Schallendes Gelächter im Ausschuss.
Ein Beamter der Bundesanwaltschaft geht unter. Er wirkt wie ein Sechstklässler, der dem Lehrer beichten muss, seine Hausaufgaben nicht gemacht zu haben. Man könnte Mitleid haben, wenn solcherart Ermittlungen bei der Karlsruher Behörde nicht Methode hätten. Schon Jahre zuvor hatte Bundesanwalt Steudl nach einem ähnlichen Prüfvorgang verneint, dass die gesuchten Bombenbauer aus Jena, eben Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe, einen terroristischen Hintergrund haben. In der NSU-Mordserie wird bis heute nicht gegen Verfassungsschutzämter ermittelt. Und im Bundesamt für Verfassungsschutz konnten Akten vernichtet werden, Beweismaterial, ohne dass die Bundesanwaltschaft dagegen einschritt.
„Mein Eindruck ist“, sagt Eva Högl am Ende ihrer Fragen zum Zeugen Christian Ritscher, „Sie haben im August 2006 versucht, den Fall vom Generalbundesanwalt wegzubringen. Die Unterlagen sprechen eine ganz klare Sprache.“
Im September, am ersten Sitzungstag nach der Sommerpause, war die Empörung im Ausschuss groß. Wenige Tage zuvor hatten die Abgeordneten erfahren, eher zufällig, dass es beim Militärischen Abschirmdienst (MAD), dem Nachrichtendienst der Bundeswehr, eine Akte über das spätere NSU-Mitglied Mundlos gab. MAD, Bundesverteidigungsministerium, BKA und mehrere Verfassungsschutzämter wussten das – nur der Ausschuss nicht. „Vertrauensbruch“, „Missachtung des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses“ und „vom MAD angelogen“, so die Abgeordneten. Präsident des MAD war bis zum Juli 2012 Karl-Heinz Brüsselbach. Nun, Ende November, muss er vor den Abgeordneten erscheinen.
Brüsselbach, 65 Jahre alt, war 33 Jahre lang im MAD tätig, davon zwei Jahre als dessen Chef. Zuvor tat er zehn Jahre Dienst im Bundesamt für Verfassungsschutz. Er erklärt „tiefes Bedauern für die Untaten“, „großes Mitgefühl für die Angehörigen“ – um sich sogleich zu wenden: Der MAD habe sehr engagiert und professionell gearbeitet und weder vor noch nach Einsetzung des Untersuchungsausschusses eine Vertuschungsabsicht gehegt. Brüsselbachs Vernehmung ergibt das Gegenteil. Und lässt Fragen offen, die vor allem ans Verteidigungsministerium gehen.
Mit dem Tod von Mundlos und Böhnhardt am 4. November 2011, der Brandlegung in Zwickau und der Flucht von Zschäpe wurde die Terrorgruppe NSU und der Zusammenhang der zehn Morde bekannt. Wenige Tage später war im MAD klar, dass es bei der Bundeswehr eine Akte Mundlos gibt. Brüsselbach erfuhr am 11. November davon. Der Aktenfund war allerdings nicht Ergebnis eigenständiger Nachforschungen, sondern kam zustande, weil eine Zeitung aus Stuttgart im Verteidigungsministerium nachgefragt hatte, ob Mundlos und Böhnhardt bei der Bundeswehr waren. Am 7. Dezember 2011 wurde die Personalakte Mundlos ans Ministerium gefaxt, dort die Presseanfrage beantwortet und dann das Fax vernichtet.
Uwe Mundlos leistete vom 1. April 1994 bis zum 31. März 1995 seinen Wehrdienst. Aus der Akte geht hervor, dass er währenddessen eine Straftat beging und dafür sieben Tage in Arrest saß. Bei einer Kontrolle waren Visitenkarten von ihm mit dem aufgedruckten Bild Hitlers gefunden worden. Am 9. März 1995 wurde er vom MAD befragt. Unklar ist, mit welcher Absicht und ob das die einzige Befragung war. Der MAD bestreitet, dass er Mundlos als Informant anwerben wollte. Möglich ist aber auch, dass sich der Verfassungsschutz des Landes Thüringen für den Neonazi interessierte und der MAD eine Zusammenarbeit – oder Übernahme – anbahnen sollte. Brüsselbach bestätigt auf Fragen der Abgeordneten, dass es diese Praktiken zwischen MAD und VS gibt. Oft halte der MAD noch nach Übergabe den Kontakt zum V-Mann, aus „Fürsorge- und Nachsorgepflicht“ (O-Ton Brüsselbach) oder sogar auf der Arbeitsebene.
Am 15. Dezember 2011 fragte das BKA beim Verteidigungsministerium nach der Personalakte von Mundlos. Reste der Akte lagen im Kreiswehrersatzamt Erfurt. Am 24. Februar 2012 holte der MAD sie dort ab. Am 7. März 2012 übermittelte er sie dem BKA – vier Monate nach dem Auffliegen der Terrorgruppe. Warum so spät? Brüsselbach: „Das war Bundeswehr-Sache.“ Der MAD sei nur der Kurier gewesen. Ende Januar 2012 wurde der Untersuchungsausschuss konstituiert. Warum wurde ihm die Akte nicht übermittelt? Brüsselbach: „Mea culpa.“ Der Besteller sei das Verteidigungsministerium gewesen. Das erklärt freilich nicht, warum sie der Ausschuss ein halbes Jahr später immer noch nicht hatte. „Wir haben Sie damals im September ertappt“, sagt Eva Högl, die Obfrau der SPD-Fraktion, wenig später zu Christof Gramm, der im Verteidigungsministerium für den MAD zuständig ist und nach Brüsselbach als Zeuge vernommen wird: „Wir hätten den Oberst Dieter Huth vernehmen sollen, ohne Kenntnis der Akte Mundlos. Das ist ein Umgang mit diesem Ausschuss, den ich für unverschämt halte.“
Auch in der Bundeswehr und im MAD wurden nach dem 4. November 2011 massenhaft Akten vernichtet. Brüsselbach schied Ende Juni 2012 aus dem Dienst aus. Erst am 19. Juli 2012 wurde ein umfassender Aktenvernichtungsstopp verfügt. „Warum nicht direkt nach dem 4. November 2011?“, will Petra Pau, Obfrau der Linksfraktion, wissen. „Gute Frage“, antwortet der MAD-Pensionär Brüsselbach: „Wir dachten, was wichtig ist, werde schon nicht vernichtet werden.“
August Hanning, 66, war von 1998 bis 2005 Präsident des Bundesnachrichtendiensts (BND) und danach bis 2009 Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Vier Stunden lang wird er Ende November im Ausschuss befragt. Hanning bleibt hart. Aus damaliger Sicht habe man nichts falsch gemacht. In der Lagebesprechung der Nachrichtendienste habe es keine belastbaren Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund der „Ceska-Morde“ gegeben. Ganz am Ende der Befragung kommt es zu einem Konflikt, der etwas darüber verrät, was die Sicherheitsnomenklatur der BRD tatsächlich von diesem Ausschuss hält. Sebastian Edathy fragt, wie viele Fälle es in jenen Jahren gab, in denen so erfolglos ermittelt wurde wie bei den Ceska-Morden. Es sei der einzige gewesen, antwortet August Hanning.
Edathy: Hätte man einen anderen Ermittlungsweg beschritten, wenn nicht neun ausländische Kleinhändler ermordet worden wären, sondern neun Vorstände von großen Unternehmen oder Banken?
Hanning: Wenn wir neun ermordete Polizisten gehabt hätten, hätten wir dann einen Untersuchungsausschuss gehabt?
Högl: Meinen Sie, wir hätten dann keinen gehabt?
Hanning: Ja.
Edathy: Wie kommen Sie auf die Idee, wir hätten keinen Ausschuss, wenn neun Polizisten ermordet werden würden? Das ist unverschämt!
Beifall eines Zuschauers.
Hanning: Das weise ich zurück. Das ist nicht unverschämt. Wenn Migranten ermordet werden, haben wir eine hohe Aufmerksamkeit, zum Glück. Das hat etwas mit der deutschen Vergangenheit zu tun.
Edathy: Der Ausschuss ist nötig, weil er für das Vertrauen in den Rechtsstaat nötig ist. Dafür, dass die Bürger sich auf seinen Schutz und die Aufarbeitung verlassen können müssen.
Hanning: Zu sagen, es werde nicht genug ermittelt, wenn türkische Mitbürger ermordet werden, ist ein unzulässiger Vorwurf gegen die deutschen Sicherheitsbehörden.
Serkan Tören, FDP, geboren in der Türkei: Wenn Sie behaupten, der Ausschuss wäre nicht zustande gekommen, wenn neun Polizisten ermordet worden wären, unterstellen Sie uns, der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter sei uns egal. Ich schließe mich dem Urteil „Das ist unverschämt!“ an.
Hanning: Ich wollte nicht vergleichen. Ich wollte nur sagen, dass es in Deutschland eine besondere Sensibilität gibt, wenn Ausländer ermordet werden.