Berlinmusik: Negatives Denken
Elektronische Musik und Mystik bilden auf den ersten Blick ein ungleiches Paar. Zumindest wenn man bei synthetischen Klängen an futuristische Entwürfe denkt, in denen der Fortschrittsglaube vorherrscht. Eigentlich gab es aber schon immer diesen anderen Aspekt in der Elektronik, die Verquickung von Technik und Spiritualität, wie etwa in Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“, der ein Motiv aus dem biblischen Buch Daniel mit Verfahren der Musique concrète kombiniert.
Der in Berlin lebende Italiener Valerio Tricoli nutzt Natur- und Umweltaufnahmen, wie sie in der Musique concrète die Arbeitsgrundlage bilden, ebenfalls als Hauptquelle für seine Musik. Auf seinem Album „Clonic Earth“ hat Tricoli die Geräusche diesmal aber stark verarbeitet, lässt die Grenze zwischen akustischen und elektronischen Klängen bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen, und landet bei düsteren, surreal-psychedelischen Klangschichtungen.
Die verschaltet er mit Texten, inspiriert vom antiken Lehrgedicht „Die chaldäischen Orakel“ und den Science-Fiction-Geschichten Philip K. Dicks. Flüsternde, murmelnde und jenseitige Stimmen geistern durch seine großangelegten Epen. Wenn zwischendurch eine berlinernde Stimme Klartetxt redet, gelingt diese Irritation auf Anhieb – und zeigt, dass Tricoli bei allem Schwergewicht Sinn für Humor hat.
Sinn für Humor beweist auch das blasinstrumentenbewehrte Duo The International Nothing, das bei einer Prämierung für den besten Bandnamen sehr weit vorn dabei wäre. Auf dem Album „The Power of Negative Thinking“ haben sich die beiden Klarinettisten Kai Fagaschinski und Michael Thieke mit dem Bassisten Christian Weber und dem Schlagzeuger Eric Schaefer zum Quartett vereint, was der Namenszusatz (… and Something) verdeutlicht.
Fagaschinski und Thieke erzeugen sorgsam geschichtete Mehrklänge, Differenztöne und Überlagerungsfrequenzen – vulgo krächzende Zwischengebilde, die für Hörer, die mit den Gepflogenheiten der Berliner Echtzeitmusik nicht vertraut sind, wie ausgedehntes Falschspielen klingen mögen, tatsächlich aber fein ausgelotete Erkundungen ihrer Instrumente darstellen. Weber und Schaefer geben dem schwebend-bohrenden Klang eine ganz leichte Erdung, erweitern das Spektrum nach unten. Wenn so das Negative klingt, kann es so schlecht nicht sein. Tim Caspar Boehme
Valerio Tricoli: „Clonic Earth“ (PAN)
The International Nothing (… and Something): „The Power Of Negative Thinking“ (Monotype)
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen