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Die Chance, im Leben einiges zu ändern

Porträt Gerard Reyes wäre gern Backgroundtänzer bei Janet Jackson geworden, aber es kam anders. Der Tänzer aus Kanada zeigt heute und am Samstag ein Solo in der Tanzfabrik

Auf der Suche nach einer Gender-unabhängigen Sexualität: Gerard Reyes Foto: Alejandro Santiago

von Astrid Kaminski

Wäre es nach seiner Mutter gegangen, wäre Gerard Reyes kanadischer Premierminister geworden. Denn die Mutter, eingewandert aus Uruguay, hatte große Erwartungen an den ersten Kanadier, den sie geboren hat. Und tatsächlich hat es der Sohn geschafft, ganz oben mitzutanzen, allerdings nicht metaphorisch. Gerard Reyes ist Tänzer geworden.

Jahrelang arbeitete er für international tourende Compagnien, am intensivsten für die bekannte Choreografin Marie Chouinard. Noch im letzten Jahr war er mit deren irrwitziger Choreografie zu Henri Michaux’ meskalingetriebenen Tuschezeichnungen in Berlin: Figurinen, in prismenartige Bewegungsüberlagerungen aufgebrochen und durch das Zuschauerauge wieder fixiert. Ein gruppenchoreografisches Glanzstück mit höchstem Anspruch an Bewegungsapparat und -denken.

Inzwischen regiert Reyes die Bühne solistisch. Auf der Suche nach einer Gender-unabhängigen Sexualität. Einer Körpersprache, die nicht wie die scheinbaren Gesetze des Pas de deux davon ausgeht, dass Frauen Blumen sind und Männer instinktgetriebene Schwerstarbeiter. Aber auch nicht davon, dass es keine Blumen und keinen Instinkt gibt.

Wir sitzen unter einem missmutigen Berliner Sommerhimmel, es ist frisch, und ich warte lange auf den Moment, in dem Gerard die Trainingsjacke über seine muskulösen Arme streift. Er ist noch gut aufgewärmt von seiner Probe für die Berliner Präsentation von „The Principle of Pleasure“ im Rahmen der Tanzfabrik. Seine Studiozeit in den Uferstudios im Wedding hat er ein bisschen überzogen, die Nachnutzer damit genervt, sich husch-husch abgeschminkt. Unter den Augen sind die dunklen Lidstriche übrig geblieben. Auch der grüne Glimmer auf den Wangenknochen.

Seit zwei Jahren ist Gerard Reyes in Berlin. Sein Ehemann bekam als Historiker eine Stelle angeboten. Das war die Chance, im Leben und Tanzen einiges zu ändern. Immer mehr hatte der Tänzer die Pause zwischen den Tourneen genutzt, um bei Vogue-Größen wie Archie Burnett, Jose Xtravaganza, Danielle Polanco und Benny Ninja zu lernen. Die wichtigste Lektion bestand in einer Änderung seines Verhältnisses zum Spiegel. Eine Art Beziehungstherapie. Danach war der Spiegel nicht mehr, wie so oft im (klassischen) Tanz, Mittel der Kritik, sondern Partner. Einer, der herausfordert, auffordert, Begehren weckt.

Der Vogue-Style, ursprünglich ein Community- und Wettbewerbstanz der schwarzen New Yorker Homosexuellen und Transgenderszene, populär geworden durch Madonnas gleichnamigen Clip, funktioniert für Reyes nach der Formel: „Voguing is playing“: „Alles das spielen, was dir die Gesellschaft nicht zugesteht zu sein“.

Seine Geschichte fängt in Barrie an, eine Stunde nördlich von seiner Geburtsstadt Toronto, wohin er im Alter von sechs Jahren umziehen musste. Eine Hockeystadt, in der das Kind weißer Einwanderer aus Uruguay sich fremd fühlte. Er wurde gehänselt, nur weil er die Hände anders hielt als andere. Die Schule schaffte er emotional allein deshalb, weil er sich früh selbst beibrachte zu meditieren.

Dass er trotz seines Interesses für Naturwissenschaften die Körperreglementierungskunst Tanz studierte, liegt an Janet Jackson. Bei ihr wollte er Backgroundtänzer werden. Aber obwohl er die Choreos vielfach lernte, schlug er doch immer wieder andere Wege ein. Für einen, der selbst etwas zu sagen hat, ist das vielleicht nicht das schlechteste Schicksal.

Reyes geht in Posen wie von Männern, die sich benehmen wie Frauen

Spiegel als Fetische

Trotzdem spielt Jackson eine wichtige Rolle in seiner aktuellen Arbeit, deren Titel vom Song und Clip „The Pleasure Principle“ abgeleitet ist. Ihre Musik, ihre Art, einen Stuhl im Lauf über die Kanten auf den Rücken zu kippen. Und zwei Accessoires, die Reyes in den Stand seiner wichtigsten Mitspieler erhebt: Spiegel. Sie kommunizieren sowohl mit ihm als auch mit dem Publikum. Sie machen Sichtachsen auf, lassen Kaskaden entstehen, definieren den Raum, verschleiern ihn. Und sie sind Fetische.

Reyes trägt ein delikates schwarzes Netztrikot, dazu Stilettos. Er tanzt virtuos. Dann wieder geht er in Posen wie von Männern, die sich benehmen wie Frauen, die Männern gefallen wollen – auch das ist Vogue. Aber ist diese Appropriation nicht vielmehr eine Zementierung von Stereotypen als ein Gender-unabhängiges Spiel? „Wenn ein Mann sich dieses Verhalten aneignet, wird dadurch umso deutlicher, dass es sich um einen Code handelt. Ich bin dazu in der Lage, es zu analysieren, zu erlernen und zu üben. Das heißt, dass es nicht allein den Frauen gehören kann. Diese ‚femininen‘oder ‚maskulinen‘Codes gehören uns allen“, klärt der kanadische Premierminister in spe auf.

Der amtierende scheint ähnlich zu ticken, schließlich ist er bei der diesjährigen CSD-Parade in Toronto mitgelaufen. Die Prinzipien der Lust waren schon immer in letzter Instanz eine politische Angelegenheit.

„The Principle of Pleasure“, 21. und 23. Juli, Tanzfabrik, im Rahmen von Open Spaces#2-2016. Vom 22. bis 24. Juli ebendort Workshop „Voguing – No Guilt in Pleasure“ mit Gerard Reyes

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