: Angriff auf die Eliten
KOOPERATION DER HISTORIKER Eine Ausstellung und eine Konferenz erinnern daran, wie tschechische und polnische Intellektuelle von den Nationalsozialisten verfolgt, deportiert und ermordet wurden
„Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen.“ Diesen Satz, der kaum zu seinen späteren Aussagen zum Holocaust passt, sagte Martin Walser 1979. Seitdem hat die Erinnerung an den millionenfachen Mord eher zu- denn abgenommen. Zugleich aber scheint die Erinnerung an die Massenmorde der Nazis und der Wehrmacht im Zuge ihres Vernichtungskriegs im Osten eher in den Hintergrund zu rücken. Das gilt etwa für die Verfolgung, Internierung und Ermordung der sogenannten Intelligenz in Polen und der Tschechoslowakei zu Beginn des Zweiten Weltkriegs.
Diese Untaten sind unseren östlichen Nachbarn in traumatischer Weise noch nah. Hierzulande aber erinnern sich bestenfalls Fachleute der Geschichtswissenschaft an diese Verbrechen. Eine Doppelausstellung in den KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen sowie eine internationale Tagung zum Thema in Oranienburg am Wochenende kämpfte gegen dieses Vergessen und Verdrängen an.
Ein Vernichtungsfeldzug
Zunächst die Fakten: Kurz nach der Eroberung des westlichen Teils von Polen wurden im Spätherbst 1939 zunächst 169 polnische Wissenschaftler der Jagiellonen-Universität Krakau sowie 100 katholische Priester in das Konzentrationslager Sachsenhausen am Rande von Oranienburg bei Berlin verschleppt. Es folgten Tausende andere Polen. Etwa um die gleiche Zeit nahmen die Deutschen auch mehr als 1.000 tschechische Studenten fest, nachdem diese gegen die Besatzer in Prag protestiert hatten. Auch sie kamen nach Sachsenhausen. Ebenso verschleppt wurden Frauen aus Polen und der Tschechoslowakei, die zur sogenannten Intelligenz gehörten. Sie kamen nach Ravensbrück. Das Ziel war immer das gleiche: Die Elite beider Länder zu zerstören, um die Völker umso besser beherrschen zu können. Der Krieg im Osten war „von Anfang an ein Vernichtungsfeldzug“, sagte in Ravensbrück Günter Morsch, der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, die eine Organisatorin der Ausstellungen und der Konferenz war.
Neben der Stiftung organisierten gleichberechtigt auch die Karls-Universität in Prag und die Jagiellonen-Universität die Schau und die Tagung – und dieses trinationale Forschen und Gedenken ist an sich schon eine Sensation. Charmant sagte Morschs Kollege Jan Rydel von der Jagiellonen-Universität: „Die Kooperation war so schön – wenn bloß die Thematik nicht so tragisch wäre.“
Tatsächlich war die Verschleppung der polnischen „Intelligenz“ für die damalige „polnische Öffentlichkeit ein Schock“, der lange nachwirkte, so Rydel. In der Sachsenhausener Ausstellung sind etwa die Bänke des Hörsaals ausgestellt, in den die Professoren unter einem Vorwand eines Vortrags gelockt wurden, um von dort direkt nach Sachsenhausen verschleppt zu werden. Ein schockierendes Exponat ist auch das Paket, in dem die Urne mit der Asche von Stanislaw Estreicher an die Angehörigen nach Prag geschickt wurde – der frühere Rektor der Krakauer Universität war in Sachsenhausen umgekommen. Seine Familie musste Gebühren zahlen, um das Paket per Nachnahme von der Post zu erhalten.
Manche Inhaftierte leben immer noch. Als 14-Jährige etwa kam Krystyna Zaorska mit ihrer Mutter nach Ravensbrück. Sie bekam die Häftlingsnummer 76933. Ihre Zeichnungen, die sie in der Haft anfertigte – Szenen aus dem Pfadfinderleben sowie Märchenfiguren –, sind in Ravensbrück zu sehen. „Wir wollten einfach für einen Moment die Wirklichkeit vergessen und uns von dem, was wir aus dem Fenster sahen, für eine Weile abwenden“, sagt die alte Dame. Auch eine Freundin Kafkas, die Journalistin Milena Jesenska, war in Ravensbrück, ein Schal von ihr ist dort ausgestellt. Die Aktualität der Erinnerung an die Verfolgung der „Intelligenz“ wird auch an diesem Detail deutlich: Bei der Samtenen Revolution in Prag 1989 sagte der im Zweiten Weltkrieg nach Sachsenhausen verschleppte Student Josef Sarka: „Ihr wisst, was am 17. November 1939 passierte: Wir wurden verhaftet. Heute sind wir frei.“
Plädoyer für das Zuhören
Und der Streit um die Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach? Immer wieder tauchte dieser Name auf. Rydel deutete an, ohne Steinbachs Sturheit sei es „sicherlich leichter“, die Leiden auch der deutschen Bevölkerung nach dem Krieg „voll zu akzeptieren“. Nötig sei „die Bereitschaft, die Geschichte des anderen zu empfangen“. Die Ausstellung sei „ein Plädoyer für das Zuhören“, sagte Morsch, keines zum Vereinheitlichen der verschiedenen Erinnerungstraditionen. Hinter den Großerzählungen von Holocaust und Totalitarismus dürften andere Geschichten wie die der Verschleppung und Ermordung der tschechischen und polnischen „Intelligenz“ nicht in den Hintergrund rücken. Die Ausstellung ist brandaktuell, Steinbach eine Figur von gestern.PHILIPP GESSLER
■ „Vergessene Vernichtung? Polnische und tschechische Intelligenz in den Konzentrationslagern Sachsenhausen und Ravensbrück am Beginn des 2. Weltkriegs“. Gedenkstätte Ravensbrück bis 30. April 2010, Gedenkstätte Sachsenhausen bis 30. Mai 2010