piwik no script img

Unruhe über Europa

Im Osten In Berlin spielt der Violinist Mark Chaet im Wintergarten. Für den Fernsehfilm „Die Partitur des Krieges“ besuchte er nach 20 Jahren seine mittlerweile geteilte Heimat in der Ukraine

von Rüdiger Rossig

Eurokrise, Grexit, Flüchtlingskrise, Brexit: Seit Jahren sind die Staaten im Norden, Westen und Süden Europas, die schon vor 1989 mehr oder minder wohlständige Demokratien waren, mit sich selbst beschäftigt. Die Nachbarn im Osten, die bis vor 25 Jahren in kommunistischen Diktaturen lebten, kommen in ihren Debatten selten vor.

Dabei herrschen in weiten Teilen der ehemals „realsozialistischen“ Länder Zustände, die man gern als Krise bezeichnen würde – würde der Begriff nicht implizieren, dass sich Massenverarmung und halb autoritäre Regime irgendwann in bessere, lebenswertere Verhältnisse verwandeln würden. Doch dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Im Gegenteil: In der Ukraine ist aus der Dauerkrise mittlerweile Krieg geworden – was nicht nur eingeborene Westeuropäer nur zu gern verdrängen.

Davon erzählt der Dokumentarfilm „Die Partitur des Krieges“. Ihr Protagonist ist der ukrainische Violinist Mark Chaet, der vor über 20 Jahren nach Deutschland zog. Er hat es zu etwas gebracht: Er bespielt mit eigenen Kompositionen das Berliner Varieté Wintergarten und gastiert in verschiedenen Ensembles. In seiner Heimat ist er seit seiner Auswanderung nicht mehr gewesen.

Der Film begleitet Chaet, als er Freunde auf beiden Seiten der Front besucht

Chaet hat die Orange Revolution genauso verpasst wie den Euromaidan. Auch die Besetzung der Krim und den Krieg im Donbass hat er nur von Ferne mitbekommen – obwohl er die Gegend bestens kennt: Der Musiker ist in Kramatorsk aufgewachsen, einer Industriestadt, die heute auf der ukrainischen Seite des Konfliktgebietes liegt. Aufs Konservatorium ging er in Donezk, heute eine der Hauptstädte der prorussischen Separatisten.

Natürlich hat Chaet die Ereignisse in seiner Heimat verfolgt. Und die TV-Bilder von Zerstörung, Toten und Verletzten, die Radioberichte, Telefonate und Internet-Chats mit Freunden und Bekannten zu Hause haben etwas mit ihm gemacht.

Am Anfang des Films „Die Partitur des Krieges“ spricht der Violinist von zwei Arten der Stille: der angenehmen, die er zum Beispiel in Brandenburg auf dem Land findet, wo man keine Autos hört; und diese andere Stille, die man nicht lange ertragen kann. Die Spannung erzeugt. Unruhe verbreitet. Wie in einer Komposition, wenn der Komponist das Publikum darauf vorbereiten will, dass gleich etwas passieren wird.

Der Film begleitet Chaet, als er im April 2015 Freunde und Bekannte auf beiden Seiten der Front besucht. Die Cousine Olga, der Schulfreund Roman, die erste Geigenlehrerin und der Liedermacher Wladimir Skobzow – alle versuchen, unter unmöglichen Umständen ein halbwegs normales Leben zu führen. Sie nehmen Chaet mit in ihr Leben – und damit auch uns Zuschauer. Bei allen Umarmungen, bei aller Bemühung zur Normalität bleibt dabei der Krieg immer gegenwärtig. Erst gibt es keinen Passierschein der ukrainischen Seite, ohne den es unmöglich ist, die Demarkationslinie zu den Separatistengebieten zu überqueren; dann verstören die Bilder zerstörter Häuser oder der Barrikaden in Donezk; einmal wird das Auto des Filmteams von der Straße gedrängt und von bewaffneten Uniformierten umstellt.

Die Musik zu diesem schmerzlich-schönen, langsamen Film hat Chaet selbst komponiert. Zudem spielt er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf seiner Violine. Begleitet wird Chaet von Armin Siebert, Dolmetscher, Osteuropa-Experte und Manager des Labels East­blok Music sowie dem Cutter, Kameramann und Filmemacher Tom Franke („Tod im Stasiknast – Warum starb Matthias Domaschk?“, „Die Nationale Front – Neonazis in der DDR“). Franke hatte den Besuch in der Heimat seines Freundes Chaet angeregt.

Den Zuschauern bringen die drei neben vielen schönen, hässlichen und vor allem berührenden Erfahrungen vor allem eines mit aus dem Ukraine-Konflikt: eine in krassem Widerspruch zu ihrem ruhigen Film stehende innere Unruhe, die sich aus dem Wissen über die katastrophalen Zustände an der östlichen Peripherie Europas speist. Diese Unruhe ist es, die sich der Rest Europas durch Wegsehen ersparen will. Sie wird unerträglich, wenn man versteht, dass diese Strategie nicht funktionieren wird.

„Die Partitur des Krieges“, RBB-Fernsehen 13. Juli 2016, 0.00–1.30 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen