„Wir sind kein Forum für Wutbürger“

Stimmung In der Sendung „Ihre Meinung“ kommen normale Leute zu Wort. Bettina Böttinger moderiert sie

Bettina Böttinger vor Wutbürger-Symbol Foto: Henning Kaiser/dpa

INTERVIEW Anne Fromm

taz: Frau Böttinger, eine Ihrer Sendungen moderieren Sie an mit: „Meine Aufgabe als ­ Journalistin ist heute: Ich möchte wissen, wo bei Ihnen der Schuh drückt.“ Ist das Ihre Aufgabe? Es klingt mehr nach ­Sozialarbeiter denn nach Journalist.

Bettina Böttinger: Das ist doch die Grundaufgabe jeder Reporterin, selbstverständlich interessiert es mich auch, wie die Menschen ihre Lebenssituation wahrnehmen. Nur stehe ich für die Sendung eben im Studio.

Wie wählen Sie das Publikum für die Sendung aus?

Wir veröffentlichen vor jeder Sendung einen Aufruf, sich zu den Themen als Gesprächspartner zu melden. Die Redaktion wählt daraus 100 Besucher aus. Da wird nicht nach Proporz gesiebt oder danach, welche Meinungen wir opportun finden. Es geht lediglich darum, zu hören, wie meinungsstark die Leute sind oder wer eine interessante Geschichte beitragen kann. Ich hab’vor der Sendung keine Ahnung, wer welche Meinung vertritt.

Melden sich da nicht nur die Leute, die besonders wütend sind?

Die ersten vier Sendungen haben gezeigt, dass wir kein Forum für Wutbürger sind, sondern für Leute, die glauben, ihre Perspektive käme in der öffentlichen Debatte nicht vor. Natürlich ist das nicht repräsentativ, aber dafür flankieren wir die Sendungen ja auch mit Umfragen von Infratest Dimap, die wir selbst in Auftrag geben.

Zum Teil sagen Ihre Gäste Unwahrheiten oder argumentieren mit Vorurteilen. In der Sendung über den Islam beispielsweise meinte einer, wenn der Islam sich in Deutschland festsetze, würden hier bald Frauen gesteinigt. Eine andere Frau sagte, muslimische Männer sähen in deutschen Frauen eine „Bedürfnisanstalt“. Muss man dem ein Forum bieten?

Mit jeweils 100 Bürgerinnen und Bürgern und zwei Experten diskutiert Böttinger ein Thema, bisher liefen vier Sendungen zu: Altersarmut, Islam, Kriminalität in NRW und Gerechtigkeit, neue Folgen voraussichtlich ab Herbst dieses Jahres.

Wir haben ja immer zwei Experten da, die so etwas richtigstellen können. Aber ich finde es gut, wenn solche Ängste auch einmal öffentlich formuliert werden. Sie sind ja da. Ich finde, Politiker sollten sich diese Sendung angucken, damit sie ein Gefühl für die Stimmung in der Bevölkerung bekommen.

Was bringt das? Haben Sie das Gefühl, dass die Diskussionen in Ihrer Sendung wirklich Leute überzeugen können, oder sehen die Besucher die Sendung nicht eher als Ventil zum Dampfablassen?

Ich empfinde die Diskussionen als lebendig und authentisch. In den Polit-Talkshows sitzen in der Regel Experten – Journalisten und Politiker –, die auf einem sehr abstrakten Niveau diskutieren. Wenn bei uns Leute aus ihrem Alltag erzählen, dann ist das eine ganz andere Erfahrungsebene. In der Sendung über Altersarmut hatten wir einen Mann zu Gast, der 40 Jahre lang Lkw gefahren ist und nun in der Rente trotzdem Pfandflaschen sammeln muss. Er erzählt das mit Tränen in den Augen. Das zeigt doch eine ganze andere Seite einer Debatte als eine Polit-Talkshow.

Ist die Sendung auch eine Offensive des WDR, dem „Lügenpresse“-Vorwurf entgegenzusteuern?

Wir sind nicht das Sprachrohr von Pegida. Ich denke, Menschen, die mit dem Begriff „Lügenpresse“ hantieren, sind an einer Diskussion nicht interessiert. Insofern: Nein, es ist keine Charmeoffensive des WDR.

Bettina Böttinger

60, ist seit 1985 beim WDR, seit zehn Jahren Moderatorin beim „Kölner Treff“, seit diesem Jahr bei „Ihre Meinung“.

In den USA sind solche Formate ja viel populärer, „Town Hall“ heißt das da. Fehlt das hier?

Ich denke schon, und das zeigt auch der Erfolg unserer Sendung. Wir haben gute Quoten, selbst unter jungen Menschen. Es sind also nicht nur die Alten, Frustrierten, die uns zuschauen. Das beweist doch, dass es ein Bedürfnis danach gibt, die Meinung der „normalen“ Leute abzubilden. Es ist nicht gerecht, wenn Menschen auf der Strecke bleiben und dann noch nicht einmal gehört werden.

Jan Böhmermann kritisiert die Sendung. Er sagt sinngemäß, dass viele Leute keine Ahnung von politischen und gesellschaftlichen Themen haben und man sie deswegen nicht ins Fernsehen holen sollte. Was halten Sie davon?

Ich schätze Jan Böhmermann sehr, aber in diesem Fall halte ich seine Meinung für arrogant. Dahinter steckt ja die Haltung: Ich als Journalist weiß, wo es langgeht und entscheide, welche Meinungen an die Öffentlichkeit kommen und welche nicht. Ich habe mich selbst von den Zuschauerinnen und Zuschauern überzeugen lassen, dass sie sehr wohl Wichtiges zu sagen haben.