Zwei Tage Europa:
Donnerstag, 23. 6., Großbritannien, 8 Uhr (deutscher Zeit): Die Wahllokale öffnen. 46,5 Millionen Wahlberechtige entscheiden über „In“ oder „Out“. In einigen Landesteilen, vor allem im Südosten, regnet es wie lange nicht mehr. Züge fallen aus, Pendler sitzen fest, Wahllokale müssen verlegt werden. +++ 9.25 Uhr, London. Der Wettanbieter Betfair gibt sich sicher: Laut Buchmachern liege die Wahrscheinlichkeit, dass die Briten in der EU bleiben, bei 75 Prozent. Zur gleichen Zeit an einem U-Bahn-Eingang im Stadtteil Arsenal: Eine junge Frau verteilt „I’m in“-Sticker, „Come on“, ruft sie – und viele Passanten greifen zu. +++ 13.02 Uhr, London. Rund 52 Prozent der Briten befürworten laut einer Umfrage für die Zeitung Evening Standard den Verbleib in der EU. Etwa 48 Prozent seien für einen Brexit. Die Umfrage war vor Öffnung der Wahllokale geführt worden. +++ 13.17 Uhr, London. Boris Johnsons vorerst letzter Tweet. Der prominenteste Brexit-Befürworter grüßt „Morning folks“, die Wahllokale seien bis abends um zehn geöffnet, jetzt sei es an der Zeit, an das Land zu glauben und #VoteLeave zu stimmen. „Lasst uns den Tag heute zu unserem Unabhängigkeitstag machen.“ +++ 13.52 Uhr, London. Die Wetten auf der Online-Seite des Anbieters Betfair signalisieren eine Wahrscheinlichkeit von 86 Prozent für einen Verbleib Großbritanniens in der EU. +++ 17:42 Uhr, Berlin, Deutscher Bundestag, Paul-Löbe-Haus, Raum 4.700. Der Österreicher Johannes Hahn ist Erweiterungskommissar der EU, auch an diesem Tag. Er berichtet dem Europa-Ausschuss des Bundestags, wie die Gespräche mit den Beitrittskandidaten laufen: mit Montenegro, der Türkei, Serbien, Albanien und Mazedonien. Die Fragen der Abgeordneten sind technisch: Was ist mit der Justizreform in Tirana? Wie steht es um die Neuwahlen in Skopje? Zehn Minuten später heulen die Sirenen, weil im Plenum die nächste Abstimmung beginnt. Der SPD-Abgeordnete Josip Juratovic verlässt den Saal. Wie kann er heute an die EU-Erweiterung denken? „Noch haben die Briten nicht abgestimmt. Und selbst wenn sie gehen sollten, müssen wir den neuen Kandidaten doch nicht automatisch absagen.“ Und wie will er den Wählern verklickern, dass die EU an einem Ende wächst, während sie am anderen auseinanderfällt? „Wir müssen erklären, warum die Erweiterung wichtig ist: Wenn wir diese Länder enttäuschen, wenden sie sich anderen Playern zu. Russen, Chinesen. Für unsere Sicherheit wäre das fatal. Deshalb brauchen wir ein geschlossenes Europa.“
+++ 19.33 Uhr, London. Der Aktienmarkt schließt, der wichtigste britische Leitindex FTSE 100 ist um 1,2 Prozent gestiegen. Der DAX um 1,9 Punkte. Optimismus. +++ 20 Uhr, Brüssel. Blitze zucken über das Altiero-Spinelli-Gebäude des EU-Parlaments. Die Menschen in einem der Konferenzräume sind sommerlich gekleidet. Viele halten Sektgläser in der Hand, denn die Mission ist klar: 100 Liter Champagner müssen weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen