: Empathie als Selbstzweck
Choreografie Laub drüber: Die Uraufführung von „We almost forgot“, einem Stück des Nigerianers Qudus Onikeku am Ballhaus Naunynstraße
Stell dir vor, es ist Krieg, und es wird gehungert, gefoltert, gemeuchelt, gemetzelt. Macheten schlitzen Kehlen auf, Leichen werden geschändet. Siehst du das vor dir? Kannst du das tanzen? So in etwa könnte die Anweisung gelautet haben, die der in Paris arbeitende, nigerianische Choreograf Qudus Onikeku seinen Tänzer*innen für die Arbeit an seinem neuen Stück „We almost forgot“ gegeben hat. Die Uraufführung fand im Ballhaus Naunynstraße statt. Dort hatte Onikeku bereits sein Stück „STILL/life“ gezeigt, eine abstrakt gehaltene Reflexion über die Vereinbarkeit von Gegensätzen. Uraufgeführt wurde diese Auftragsarbeit beim französischen Festival d’Avignon im Jardin de la Vierge des Lycée Saint-Joseph, jenem mediterranen Innenhof, der schon so vielen Nachwuchskünstlern seine charismatische Atmosphäre als Geleit mit auf den Weg gab.
Wenn es die lichtdurchflutete Sortiertheit und Würde des Ortes waren, die Qudus Onikeku in „STILL/life“ zu seiner zwar schwer greifbaren aber schlackenfreien Bühnensprache verholfen haben, dann wäre das zumindest eine Erklärung dafür, warum er in Berlin scheitern muss. Das beginnt mit dem Titel. Eines, was man der Kunst hier ganz sicher nicht kollektiv vorwerfen kann: dass sie vergisst. Wäre es ohne die Theaterszene zur aktuellen politischen Aufarbeitung der Massenmorde an Armeniern, Herero und Nama von Anfang des 20. Jahrhunderts gekommen? Fraglich. Dennoch diagnostiziert Onikeku „We almost forgot“ und meint damit die persönlichen Leiden und Traumata der Menschen, die Opfer von Kriegen und Genoziden waren.
Den Bühnenboden überzieht eine Metapher des Todes: altes Laub. Die Rückwand ist eher Symbolträger: Sie ist komplett mit einem Patchwork-Teppich aus alten Kakao- und Kaffeesäcken behängt, die an den (Neo-)Kolonialismus als Ausgangslage vieler Kriege erinnern.
Ethnokitsch
Ein klarer Hinweis, der allerdings in der Teppichanordnung auch eine Ethnokitschkomponente bekommt. Genauso patchworkartig reiht eine Erzählerin (Ese Brume) Kriegserlebnisse aneinander, ohne Angaben zu Personen, Orten und Zeiten. Es geht nicht um einen Krieg, sondern um Krieg an sich. Ein Mammutanspruch. Sechs Tänzer*innen sollen dafür in wechselnden Rollen Bewegungsbilder finden: als sich gegen den Erinnerungsstrudel wehrende Opfer, als strangulierende Täter, als Kämpfende, als Leichenschänder, als Trauernde, als Flüchtende. Das szenische Prinzip: Eine Person wird von einem der Traumata erfasst, die anderen setzen die inneren Erlebnisse in verschiedenen Konstellationen in Szene. Das meiste davon hat einen mimetischen Duktus, etwas abstrakter sind die zentrifugalen Abwehrbewegungen, ein vertikales Sich-Freischwimmen, das Sich-Stemmen gegen etwas, die Ticks, die besonders eine der Tänzerinnen durchzucken. Aber gegen die realistischen Szenen, die sprachlich geschildert werden und die auf all die Erlebnisse weisen sollen, die Traumatisierte eben gerade nicht versprachlichen können, wirken die Tanzszenen wie Balgereien und Befindlichkeiten.
Darüber hinaus entkräftet sich manch Stilmittel von selbst, etwa wenn die Wucht einer gegen den Körper sich werfenden Seele mit ihren unkontrollierbaren Wälz-, Abwehr- und Zuckbewegungen fein säuberlich in Sequenzen choreografiert wird. Wenn schließlich eine Art Kung- Fu-Choreografie zu Arvo Pärts sphärischem „Spiegel im Spiegel“ getanzt wird, zerfällt der Abend vollends. Die Empathie des Titels scheint Selbstzweck. Worüber man nicht reden kann, dazu muss man auch nicht tanzen. Astrid Kaminski
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