: „Alles geht ruck, zuck“
DOKUMENTE DER VERNICHTUNG 1 Unternehmen Barbarossa – am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Die taz publiziert Tagebücher aus dem Vernichtungskrieg
Karl-Heinz L. , 23 Jahre. Seemann, seit 1937 Mitglied der SA. DerWehrmachtssoldat schildert, was am 15. Juli 1941, drei Wochen nach Beginndes Überfalls auf die Sowjetunion, in Libau (Liepja) in Lettlandgeschieht. Tagebuchnotiz:
Ein drückender Sommertag geht zu Ende. Wir haben uns das Motorboot klargemacht und fahren hinüber an den Strand. Nach des Tages Dienst und Hitze tut ein kühles Bad unendlich wohl. Wir tummeln uns im Wasser und versuchen mit den kleinen lettischen Deerns anzubändeln. Unweit des Strandes stoßen wir auf einen Haufen Menschen, es sieht fast so aus, als ob hier etwas verschenkt wird. Überall drängt sich Marine und Militär. Die meisten im Bade- oder Sportzeug, gerade so wie sie vom Strand kommen.
Man denkt auf den ersten Blick, hier findet eine Sportveranstaltung statt. Wir sind auf dem Platz angelangt, auf dem allabendlich so und so viele Heckenschützen erschossen werden. Ein neben mir stehender Matrose erzählt, es kämen heute Abend 45 Männer und 7 Frauen dran!! Ringsum stehen Soldaten, ich schätze, rund 600 bis 800 Mann stehen hier, um ihre grausame Neugier zu befriedigen. Es werden ja aber auch wohl sicher einige hier sein, die durch die Hand dieser Heckenschützen ihre besten Kameraden verloren haben, und denen kann man ja nachfühlen, dass sie diese Genugtuung mit ansehen möchten. Schräg vor mir liegt der ominöse Graben, der eine ziemliche Tiefe besitzt, die ich aber nicht feststellen kann. Zigaretten rauchend und schwatzend stehen alle Besucher dieser „Zirkusvorstellung“ da, als der erste Wagen eintrifft. Ein Lkw; man sieht nur zwei Männer der lettischen Heimwehr darauf sitzen.
Der Wagen stoppt. „Raus, raus“, ertönt’s von einem SS-Mann, und plötzlich sehen wir 5 Mann Köpfe hochkommen. Irrsinnige Angst verzerrt ihr Gesicht. „Los, raus, dalli.“ Wer nicht so schnell hochkommt, dem wird mit dem Gummiknüppel nachgeholfen. Hierbei tut sich in hervorragender Weise gerade die Heimwehr hervor, diese Leute, die vielleicht allen Grund hätten, etwas vorsichtiger zu sein.
5 Männer stehen jetzt vor dem Wagen. Soweit man erkennen kann, sind 2 Juden darunter. „Vorwärts, laufen“ heißt’s nun, und die fünf Mann werden in ihr offen stehendes Grab getrieben. Der Letzte, ein alter, ziemlich krummer Jude, erhält noch einen Tritt in das Achterteil und landet mit Schwung im Graben. Hier und da ertönt ein rohes Lachen. Hier und dort recken sich Hälse, um nur ja nicht etwas von diesem Schauspiel zu entbehren. Die fünf Delinquenten stehen nun mit dem Gesicht an der Grabenwand. Was mag in diesem Moment in den Verurteilten vorgehen?
Inzwischen ist das Exekutivkommando auf den Grabenrand getreten. Es ist zehn Mann, es kommen also zwei Schützen auf jeden. Ein SS-Feldwebel gibt das Kommando. „Fertigmachen!“ Zehn Gewehre richten sich auf die Nacken der Verurteilten. „Feuer.“ Wie ein scharfer Peitschenknall hören sich die Schüsse an. Das Peloton tritt zurück. Man sieht, wie einige der Schützen sich sofort umdrehen, einige andere schauen interessiert in den Graben, in dem die Delinquenten zusammengesunken sind. Nun tritt der Feldwebel heran, in der Hand die Maschinenpistole. Aufmerksam schaut er auf die Toten. Das Peloton hat anscheinend gut gefeuert, er geht von einem zum anderen. Beim Letzten endlich hebt er sein Gewehr, er zögert noch, da, ein ganz kurzer, trockener Knall, und die Exekution ist vorbei. Ein Wink, und Heimwehrleute werfen auf, greifen zum Spaten und werfen Sand auf die Leichen.
Alles geht ruck, zuck. Die ganze Exekution hat nur wenige Minuten gedauert. Das Peloton steht zusammen, erzählend und rauchend. Ich studiere die Gesichter der Umstehenden. Teilnahmslosigkeit, Gleichgültigkeit oder Befriedigung steht in ihnen geschrieben. Ein neben mir stehender, etwa 17-, 18-jähriger Jüngling gibt seine Meinung zum Besten. „Man müsste diese Banditen mit dem Bajonett totstechen, abstechen wie die Schweine.“ Auf meine Frage, ob er dieses Henkeramt übernehmen wolle, meint er naiv lächelnd: „Ja.“
Aus: „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Band 7: Sowjetunion mit annektierten Gebieten“. Dokument 26, Oldenbourg Verlag, München 2011
Wir danken für die Abdruckgenehmigung. Die Rechtschreibung wurde behutsam modernisiert. Mehr Dokumente aus dieser Edition finden Sie ab dem 20. Juni digital unter: #75JahreDanach via Twitter und Facebook
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen