Am Rande der Gesellschaft

POPMelancholische Klangcollagen im Songformat: Tobias Vethake hat als Sicker Man ein neues Album vorgelegt. Am Sonntag stellt er „The Missing“ im Roten Salon vor

Von Kafka inspiriert: Tobias Vethake alias Sicker Man Foto: Thomas Neukum

von Stephanie Grimm

Für sein letztes Album „Vicca Tantrum“ hatte sich Tobias Vethake in einen heimatlosen Stadtfuchs hineinversetzt. Jetzt hat der umtriebige Berliner Soundbastler, der mit seinen anderen Projekten wie etwa dem Noise-Ambient-Jazz-Duo Mini Pops Junior eher Klangforschung betreibt, als Sicker Man – dem poppigsten seiner Aliasse – ein neues Album veröffentlicht: „The Missing“. Diesmal ist die Existenz am Rande der Gesellschaft, an der er seinen Song­reigen aufhängt, ein junger Mann, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die USA auswandert und dort Fuß fassen will. Doch was er auch versucht: Immer wieder fällt er auf die Nase.

Inspiriert ist das Album von Franz Kafkas „Amerika“, von der Thematik der Songs bis hin zum Titel, in der englischen Übersetzung heißt der Roman nämlich „The Missing Person“. Jedes Stück des Albums behandelt eine Szene aus dem Buch.

Vethake schätzt die Perspektive gesellschaftlicher Außenseiter. „Beide Figuren sind Teil eines Organismus, zu dem sie nicht richtig gehören, in dem sie eine Nische suchen. Darin finde ich mich wieder“, so beschreibt er die Verbindung zwischen seinem Stadtfuchs und dem aktuellen Album. Zudem schätzt Vethake Konzeptalben. Beziehungsweise braucht er die Struktur, die sie bieten, damit aus dem Wust seiner Ideen irgendwann ein Album wird. Ein weiteres Korsett, das er seiner Musik verpasst: Sie muss vinyltauglich sein, also nicht länger als 23 Minuten pro Seite. Dass seine Songs auf Schallplatte gut klingen, ist ihm ein besonderes Anliegen.

So streng Vethake bei der Umsetzung konzeptueller Vorgaben ist: Beim Interview holt er weit aus und bringt alles mit allem in Verbindung. Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, das Gespräch nimmt unerwartete Wendungen. Schließlich hat irgendwie alles mit allem zu tun. Die Flüchtlingskrise, Griechenland, das sich verändernde Gesicht der Bergmannstraße (das Interview findet in einem Café in einer Nebenstraße statt), Gentrifizierung, das Leben in der Stadt.

Besonders Letzteres ist immer wieder Thema bei Vethake. Der rote Faden, der sich durch das neue Album zieht, berührt einen zentralen Aspekt des urbanen Daseins: die Reibung zwischen den Bedürfnissen des Einzelnen und der Dynamik der anonymen Masse. „Solange ein Individuum noch als solches wahrgenommen wird“, sagt Vethake, „kann es gesellschaftlich noch nicht ganz schiefgegangen sein. Wenn der Einzelne automatisch als Teil einer Gruppe gilt, wird es problematisch.“

Es geht ihm dabei nicht zuletzt um die Generalisierungen, die derzeit in Gestalt eines plumpen Populismus in gesellschaftliche Diskurse eindringen. „Das Individuum“, so Vethake, „ist immer etwas Kompliziertes – und was kompliziert ist, macht keinen Spaß. Menschen haben nun mal ein Bedürfnis nach Vereinfachung.“

Doch was konkret hat ihn an Kafkas „Amerika“ so gereizt, dass er seine Songs an dem Roman aufgehängt hat? „Es ist das einzige Kafka-Buch, das ich kenne, das ein positives Ende hat.“ Und fügt grinsend hinzu: „Was aber vielleicht daran liegt, dass es unvollendet geblieben ist.“ Eine leise Melancholie mit Widerhaken schwingt immer mit bei Vethakes Blick auf die Welt.

Der Projektname Sicker Man fiel dem ehemaligen Lehramts-Musikstudenten , der zudem als Theatermusiker arbeitet und das Label Blank Records betreibt, vor gut zehn Jahren ein, als er nach einem Namen für sein zugänglichstes, weil poppigstes Alter Ego suchte. Beim Hören seiner Aufnahmen fiel ihm seinerzeit auf, wie erschöpft und introvertiert seine Stimme klang, ziemlich anstrengend waren seine ersten Jahre in Berlin.

„Ich habe gemerkt: Introvertiert geht nicht mehr. Ich muss Farbe bekennen“

Tobias Vethake alias Sicker Man

Unter dem Alias veröffentlicht Vethake seither experimentelle Popmusik: kleinteilige, melancholische Klangcollagen, die vielleicht am ehesten in die Schublade Frickel-Electronica passen. Seine Stücke erwecken den Anschein, als wären sie aus ausufernden Soundskizzen auf Songformat eingedampft worden. Doch seine Arbeitsweise ist dem diametral entgegengesetzt: Vethake komponiert, ganz klassisch, akustisch-analog an der Gitarre.

Und auch wenn die vielen Coverversionen auf seiner Soundcloud-Seite auf ein großes Herz für Popmusik schließen lassen, hat die Musik, die er inzwischen am liebsten hört, wenig mit klassischem Songwriting zu tun. „Ich mag atmosphärische Noise-Sachen, etwa die Swans oder Sunn O)))“, sagt er: „Doch in mir sind nun mal diese Songs, mit denen ich etwas machen muss.“

Auf dem neuen Album geht es, anders als auf den Vorgängeralben, nicht nur melancholisch, verknuspert und leise zur Sache. Vethake erzählt, dass er ausgerechnet zu seinem 40. Geburtstag vergangenes Jahr einen positiven Energieschub erlebte. Gleichzeitig gibt die Weltlage derzeit besonders wenig Anlass zu Optimismus.

Die musikalische Lösung für die Diskrepanz, die sich zwischen seinem Innenleben und der Welt da draußen auftat: In seine Musik soll mehr Dynamik rein. Neuerdings spielt sogar ein Schlagzeuger mit. Vethake drückt es so aus: „Ich habe gemerkt: Introvertiert geht für mich nicht mehr. Ich muss Farbe bekennen.“ Der einst kränkelnde Mann stürzt sich ins Leben.

Sicker Man: „The Missing“ (Blank Records/Broken Silence), Record-Release-Konzert mit Band am Sonntag, 20 Uhr, im Roten Salon, Rosa-Luxemburg-Platz