„Im Grunde sind auch die anderen schuld“

Das bleibt von der Woche Jede Menge Zahlen: Mit über tausend Seiten liegt nun der Abschlussbericht des BER-Untersuchungsausschusses vor, auf immerhin 180 Seiten schafft es der Verfassungsschutz-Jahresbericht, Bausenator Geisel beschaut sich die ersten der 60 modularen Unterkünfte für Flüchtlinge, kurz MUF, und die Initiative Volksentscheid Fahrrad sammelt sagenhafte 100.000 Unterschriften für ihre Sache

Eitel in die Katastrophe

Abschlussbericht zum BER

Was schieflief, wurde verschleiert, jeder hoffte, die anderen würden es richten

Nach außen funktioniert alles, so wird es über die offiziellen Kanäle verbreitet. Menschen, die ein bisschen Einblick haben, sagen: Das wird nichts. Man schenkt ihnen keinen Glauben, das Projekt ist zu groß und bedeutend, um einfach vor die Wand zu fahren. Aber genau das geschieht hinter den Kulissen: Das Chaos wächst, die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, aber man spricht nicht offen darüber, man fürchtet den Gesichtsverlust, im Grunde sind ja auch die anderen schuld. Dann knallt es.

Ja, Sie haben schon richtig geraten, das ist die desaströse Entwicklung auf der BER-Baustelle, die uns seit der geplatzten Flughafeneröffnung vor vier Jahren nicht in Ruhe lässt und die der parlamentarische Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht aufzudröseln versucht. Seit Mittwoch liegt das mehr als tausendseitige Konvolut vor.

Fast genauso gut würde die Schilderung auf die Endzeit der DDR passen. Damals fuhren die Verantwortlichen ein Land gegen die Wand, und viele von ihnen merkten es vermutlich gar nicht. Sei es, weil sie ihrer eigenen Erfolgspropaganda glaubten, sei es, weil sich keiner traute, den Murks in seinem Zuständigkeitsbereich offenzulegen. Und am Ende waren wohl die meisten davon überzeugt, dass andere (die Genossen im Politbüro, der Schlendrian der Werktätigen, der Klassenfeind usw.) für das Scheitern verantwortlich waren.

Der Vergleich mag gewagt sein, aber wenn man die Menschenrechtsverletzungen in der DDR außen vor lässt, funktioniert er. „Kollektiven Wirklichkeitsverlust“ attestiert der Ausschussbericht der BER-Nomenklatura, besser lässt es sich kaum ausdrücken. Was schieflief, wurde verschleiert, jeder hoffte, die anderen würden es schon richten.

Der Begriff „Hybris“ findet sich zwar nicht im Bericht, aber gerade aus den von parteipolitischer Rücksichtnahme unbefleckten Sondervoten der Opposition geht hervor, wie viel eitle Selbstüberschätzung ursächlich für den Weg in die Katas­tro­phe war: vom Glauben, man werde ein technisches Großexperiment (unterirdische Entrauchung) mal eben wuppen können, über die Denke von Exgeschäftsführer Rainer Schwarz, er könne die Terminalplanung nach dem Lustprinzip über den Haufen werfen, bis zur Überzeugung eines Klaus Wowereit, er benötige keine Berater mit technischem Fachwissen, um als Aufsichtsratschef das Ganze sicher zu Ende zu bringen.

Hoffentlich lernt jemand ­etwas aus den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses. Schließlich war die DDR dann mal weg, der BER aber wird uns noch lange beschäftigen.

Claudius PröSSer

Eher extrem wenig Kenntnis

Verfassungsschutzbericht

Trotz der beacht­lichen Menge Papier fällt der Bericht eher dünn aus

Für den CDU-Innenstaatssekretär Bernd Krömer ist die Sache klar: Der 180 Seiten starke Jahresbericht 2015, den der Verfassungsschutz Berlin am Dienstag vorlegte, sei ein Beweis für die Notwendigkeit dieser Behörde – schließlich zeige allein der Umfang der Broschüre, dass es an Aufgaben nicht mangele.

Der Inhalt des Berichts spielt in dieser Argumentation keine Rolle. Das ist kein Wunder, denn trotz der beachtlichen Menge Papier fällt er eher dünn aus. Erschreckend oft bleibt der Kenntnisstand der VerfassungsschützerInnen hinter dem zurück, was szenekundige ExpertInnen längst wissen.

Etwa im Bereich Rechtsextremismus: Von Anfang an warnten ExpertInnen davor, dass die seit 2013 in Berlin aktiven „Bürgerbewegungen“ gegen Flüchtlingsunterkünfte von Rechtsextremen gesteuert werden. Beim Verfassungsschutz setzte sich diese Erkenntnis nur langsam durch: Im Bericht 2014 sprach man noch vorsichtig von „Bezügen der Bürgerbewegungen ins rechtsextremistische Spektrum“, erst im diesjährigen Bericht und damit lange nach dem Aktivitätshöhepunkt dieser Gruppen werden die Bürgerbewegungen endlich als „Deckmantel“ für Rechtsextremisten bezeichnet.

An anderen Stellen offenbart der Bericht weiterhin erstaunliche Unkenntnis, etwa wenn das „Personenpotenzial Links­ex­tre­mis­mus“ aus der geschätzten Summe der „Autonomen“ und „Postautonomen“ sowie der Mitgliederzahl des Vereins Rote Hilfe ermittelt wird – als würde sich diese nicht zu einem wesentlichen Teil aus den beiden erstgenannten Gruppen speisen. Dass die Personenpotenziale der im Bericht aufgeführten Organisationen bis auf fünf Personen genau benannt werden, mutet da eher wie ein Bluff als wie tatsächlich Sachkenntnis an.

Jetzt könnte man einwenden: Was der Verfassungsschutz tatsächlich weiß und tut, kommt in diesen Berichten ohnehin nicht vor. Das mag stimmen, ist aber keine Entschuldigung, sondern ein Problem. Auch diese Behörde muss sich daran messen lassen, was sie der Öffentlichkeit an Erkenntnissen zur Verfügung stellt – und das ist auch in diesem Jahr nicht viel.

Malene Gürgen

Zu groß und zu grob gedacht

Modulare Unterkünfte

Flüchtlinge müssen weiterhin isoliert in abgekapselten Unterkünften leben

Nicht Stein auf Stein, sondern gleich Stockwerk auf Stockwerk entstehen gerade Gemeinschaftsunterkünfte für Flüchtlinge. In einer Modulbauweise lässt das Land Berlin zehn Bauten mit Platz für jeweils bis zu 500 Menschen errichten. Am Donnerstag besuchte Bausenator Andreas Geisel (SPD) eine der ersten Baustellen in Marzahn, um sich selbst anzusehen, wie vorgefertigte Stahlbetonteile zu 18 Meter breiten und 50 bis 70 Meter langen mehrgeschossigen Blocks zusammengesetzt werden. 60 soll es davon mal geben. Die ersten dieser sogenannten MUFs (modulare Unterkünfte für Flüchtlinge) sollen Anfang 2017 bezugsfertig sein.

Als der Senat den Bau der MUFs vergangenen Herbst beschloss, war das drängendste Problem, die ankommenden Flüchtlinge unterzubringen. Nun, ein halbes Jahr später, kommen viel weniger Flüchtlinge in der Stadt an. Die, die derzeit in Notunterkünften wie Turnhallen und Hangars leben, sollen bald in Container ziehen. In den MUFs sollen anerkannte Flüchtlinge Wohnungen bekommen. Denn ein immer wieder vom Senat betonter Vorteil der Modulbauweise sei nicht nur, dass sie vergleichsweise schnell und günstig sei. Die fertigen Gebäude könnten außerdem einfach von Gemeinschaftsunterkünften zu einzelnen Wohnungen umgebaut werden. Oder auch zu Senioren-, Obdachlosen- oder Studentenwohnheimen.

Die MUFs werden nun aber erst mal vor allem als Gemeinschaftsunterkünfte gebaut. Das bedeutet, dass sie von einem Zaun umgeben sind und ein Pförtner den Zugang regelt. Damit müssen Flüchtlinge weiterhin isoliert in abgekapselten Unterkünften leben.

Mit den MUFs versucht der Senat den großen Wurf, um in zweieinhalb Jahren zusätzlich zu den eh laufenden Bauprogrammen Wohnraum für 35.000 Menschen zu schaffen. Dieser entsteht aber nicht in kleinteiligen Wohneinheiten und als gemischtes Wohnen, sondern in Massenunterkünften.

Die MUFs sind zu groß und zu abgeschottet, um die In­te­gra­tion der dort lebenden Menschen zu fördern. Die Breite von 18 Metern schränkt auch ihre spätere Nutzung ein. Anstatt gleich Gebäude zu planen, die sich gut in ihre räumliche und soziale Umgebung einpassen, ist es anscheinend leichter, erst mal Blocks im Stadtgebiet zu verteilen und dann zu überlegen, wie sie angepasst werden können. Damit schafft der Senat genau die ausgrenzenden Strukturen, die er angeblich vermeiden will. Uta Schleiermacher

Erfolg erzwingt Konsequenz

Volksentscheid Fahrrad

Selbst der für Verkehr zuständige Staatssekretär sandte Glückwünsche

Es ist die Zahl der Woche im politischen Berlin, vielleicht sogar des Jahres. Einhundertfünftausendvierhunderfünfundzwanzig Unterschriften karrten die Initiatoren des Fahrradvolksentscheids am Dienstag standesgemäß mit Lastenrädern vor die Senatsinnenverwaltung. Mehr als 100.000 haben unterschrieben, dass sie eine radikale Verkehrswende in der Stadt wollen: mehr Radwege, sicherere Kreuzungen, ja sogar mehr Fahrradpolizei – aber subito.

Die Sammlung lief nicht mal vier Wochen. Dabei hätten laut Gesetz Initiatoren eines Volksentscheids sechs Monate Zeit, um nur 20.000 Unterstützer zu finden. So schnell wie die Radler sammelte noch keine Initiative. Das Thema lag offensichtlich auf der Straße. Und dennoch wurde seine Dringlichkeit, sein Potenzial von allen Parteien und auch von den üblichen Verbänden entweder übersehen oder komplett verschlafen.

Deshalb kann man der Volks­initiative erst mal nur gratulieren. Selbst der für Verkehr zuständige Staatssekretär Christian Gaebler (SPD) sandte Glückwünsche. „Freue mich über so viel Rückenwind für gute Radinfrastruktur“, schrieb er bei Twitter, wo er sich ansonsten in den letzten Tagen ein giftiges Wortduell mit Heinrich Strößenreuther, dem Initiator des Radentscheids, lieferte, bei dem es nicht mehr um Inhalte ging, sondern nur um die Frage, ob, wann, wo und wie der Senat die Radaktivisten schon zum Gespräch eingeladen habe oder nicht. Ein herrliches Gezicke.

Mittlerweile gibt es eine offizielle Einladung von Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD). Das Problem aber ist: Es gibt gar nichts mehr zu verhandeln. Der Senat darf Angebote machen, klar. Aber Strößenreuther und seine Crew haben einfach nicht mehr das Mandat, Abstriche zu machen. Ihr überwältigender Erfolg verpflichtet sie geradezu, jetzt konsequent weiterzumachen – und sich nicht wie die Initiatoren des Mietenvolksentscheids im vergangenen Jahr auf einen Kompromiss mit dem Senat einzulassen. Der nicht schlecht ist, dem aber Charme und Schwung einer außerparlamentarischen Ini­tia­ti­ve fehlen, die nötig scheinen, um Missstände radikal zu beseitigen.

Verhandeln mit Strößenreuther sollten vielmehr die Chefs der einschlägigen Parteien. Und zwar über die Frage, wie man diesen nervig konsequenten Typ ins Boot holt. Strößenreuther auf Wahlplakaten als ehrliches Versprechen an die Radler dieser Stadt, das würde wirklich etwas ändern. Sogar Wahlergebnisse. Gereon Asmuth