: Der liberale Bruder
VON CHRISTIAN FÜLLER
Otto Schily redet morgen als Alterspräsident. Wenn der 73-Jährige den neuen Bundestag eröffnet, wird der bisherige Innenminister so sein, wie er nun mal ist. Altersweise, störrisch, auch schlaubergerisch. Mindestens an einer Stelle aber wird Mister Law-and-Order seine weiche Seite zeigen. „Passen Sie auf den jungen Abgeordneten unter ihnen auf – selbst wenn er schon 68 ist. Geben Sie Acht auf meinen kleinen Bruder Konrad.“
So oder so ähnlich wird es morgen um elf Uhr sein. Dr. Konrad Schily, geboren 1937, das jüngste von fünf Schily-Geschwistern, gehört seit ein paar Wochen dem Deutschen Bundestag an. Konrad Schily ist Arzt, Neurologe. Bekannt gemacht hat ihn jedoch, dass er die erste wirklich freie Hochschule in Deutschland, die private Universität Witten/Herdecke, gründete.
Vielleicht wäre es besser, wenn Otto Schily morgen schweigen würde. Und Konrad redete.
Bei Big Brother Otto besteht stets die Gefahr, dass er seiner Königsdisziplin verfällt, dem langen juristischen Zitat. Etwa um noch einmal seinen Vorschlag zu rechtfertigen, europäische Sammellager in Afrika zu errichten. Der kleine Bruder Konrad hingegen sagt: „Wenn ich dazu im Parlament zu reden hätte, würde ich deutlich werden.“ Denn es dürfe nicht sein, dass sich Menschen an Zäunen in Lebensgefahr bringen, die scharf wie Rasierklingen sind. „Wir müssen etwas tun“, sagt Konrad Schily, „etwas Grundsätzliches.“ Weil die Flüchtlinge sich nicht aufhalten lassen würden. Auch nicht durch noch höhere Zäune.
So kategorisch sich das anhört – gegenüber seinem großen Bruder Otto sagte er es vorsichtiger, loyaler. War er schon immer. Otto ist ihm das nächste der vier älteren Geschwister, nur fünf Jahre entfernt. Zu Otto hatte er immer einen Draht. Als der Große in Berlin studierte und Konrad in Tübingen, erzählt er, „war ja klar, wer reiste, und wo ich dann übernachtete“. Mit Otto berät er sich noch heute. Als er hörte, dass Otto exterritoriale Aufnahmelager vorschlug, hat er ihn angerufen. „Wie kann das gehen?“, fragte Konrad Otto.
Im Hohen Haus könnte es demnächst passieren, dass die Bruderliebe auf die Probe gestellt wird. Konrad nämlich hat den Bundestag auf einem FDP-Ticket erklommen. Otto ist bekanntlich bei der SPD, und war wegen seiner rigiden Methoden als Innenminister gern Zielscheibe der Liberalen.
Um den hageren Mann mit dem unberechenbaren Scheitel zu verstehen, muss man hören, warum er sich fürs Parlament bewarb. Und man muss sehen, wie er das sagt. Auf der Veranda der Baden-Württemberg-Bank stehend, unter ihm der Stuttgarter Schlossplatz, der Blick frei auf die Oper, den Landtag, die Staatsgalerie. In der linken Hand eine weitere filterlose Zigarette, umreißt er in einer Stehpause einer Konferenz Ansätze einer besseren Welt. „Wir können nicht mehr mit Lösungen, die vom Ende des 19. Jahrhunderts stammen, die Probleme des 21. Jahrhunderts angehen. Das gilt für alle wichtigen Zukunftsfelder: die Ökologie, die Rente, die Arbeit, die Bildung, die Gesundheit allemal, da kenne ich mich als Arzt und Wissenschaftler am besten aus.“
Der Denker Konrad Schily würde diese Themen im Detail gern ausführlicher behandeln, als es seinem künftigen Fraktionschef Guido Westerwelle lieb wäre. Und der Macher Konrad Schily würde seine Methode explizieren: weniger Staat, mehr Freiheit für den Einzelnen.
Damit wäre Konrad Schily wieder näher bei Guido Westerwelle. Seine Methode deswegen neoliberal zu nennen, wäre ganz falsch. Schily ist geradezu trotzig altliberal. Wilhelm von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“, faszinieren ihn. Nicht der Staat, du! So lautet die Essenz der Schrift. Der Mann ist überzeugt von der Organisationskraft der Menschen – wenn sie bloß nicht von der Bürokratie bevormundet würden!
„Partizipation, Beteiligung der Bürger, beginnt bei den Schwierigkeiten“, sagt Schily, als er den Balkon mit Weitblick verlassen hat, vor einem Arbeitskreis deutsch-niederländischer Studenten. „Wir brauchen den Fachverstand der Menschen, um die vielen Probleme zu lösen.“ Das ist seine Grundidee: Die Welt ist komplex. Und wir tragen Verantwortung. Das heißt: „Wir müssen die Komplexität reduzieren, müssen aber aufpassen, dass es dabei nicht falsch wird.“
Den Abgeordneten im Bundestag würde vermutlich der Kopf schwirren nach einer Rede Konrad Schilys. Das ist der Unterschied zwischen dem großen und dem kleinen Bruder: Otto Schily ist apodiktisch – und ein bisschen unverschämt. Konrad ist gewinnend – und ein bisschen unverstanden.
Der Mann ist betörend, finden nicht nur die Studierenden, die um ihn herumsitzen. Einer der „ganz großen Anreger“ in Deutschland, sagt Christoph Ehmann, Generalsekretär des Netzwerks europäischer Universitäten „Campus Europae“, das Schily entworfen hat – im Auftrag von Helmut Kohl und Jean- Claude Juncker. Als „sanften Menschenfänger“ hat ihn der Spiegel mal bezeichnet, weil Schily so große Namen der Wirtschaft wie Alfred Herrhausen, Berthold Beitz oder Reinhard Mohn für Projekte gewonnen hat, die immer wagemutig, aber nie ganz ausgereift waren. Konrad Schily hat beinahe alles aus seiner Familie aufgesogen, das da war. Vom Vater, dem Dr. Phil und späteren Hüttendirektor Franz Schily, das Unternehmerische wie das Anstiftende. Von der Mutter Elisabeth, der Geigerin, die Wertschätzung für das Künstlerische. Von der Anthroposophie der beiden, das Soziale wie das Widerständige.
Konrad Schily kann auch wild sein. Er geht als Schüler auf einen Nazilehrer los, der sich nach dem Krieg als reingewaschener Katholik aufspielt. Da ist er 13. Konrad Schily so scheint es, nimmt alle Fäden seiner Jugend auf. Er absolviert ein Studium generale, hört den Philosophen Karl Jaspers. Als Medizinstudent lernt er seinen Mentor Gerhard Kienle kennen. Mit ihm baut er ab Mitte der 60er-Jahre ein Krankenhaus auf, das auf Chefärzte verzichtete und auch alternativen Heilmethoden Platz bot. Es war die Keimzelle für die spätere Universität Witten/Herdecke, in der Schily unter anderem die Ärzteausbildung in Deutschland revolutionierte.
Konrad Schily aber als nur erfolgreichen Unternehmer zu sehen ist nicht möglich. Das würde seiner ewigen Unfertigkeit nicht gerecht. „Das Land braucht Bewegung“, sagt Schily am Rande der deutsch-niederländischen Konferenz. Aber sein Blick ist alles andere als entschlossen. Wenig erinnert noch an den Satz des Krupp-Industriellen Beitz: „Dieser Hund sitzt da wie zum Sprung geduckt, mit ganz wildem Blick.“ Ja, Schilys Scheitel ragt noch widerborstig in die Höhe. Aber darunter schon regiert die Müdigkeit eines von vielen Gauloises gegerbten Gesichts. „Müde“, sagt einer seiner engsten Mitarbeiter, „klar ist er müde, aber er ist noch nicht zu müde.“
Wahrscheinlich ist es die Industrie, die ihn mürbe gemacht hat. Nicht etwa die Bürokratien, mit denen Schily gerungen hat. („Ich bin gegen so vieles angerannt.“) Und gegen die er wegen der Blockaden seiner Universität ein flammendes Plädoyer geschrieben hat, das von Sottisen über die „staatlich gelenkte Planwirtschaft“ nur so strotzt.
Würde Konrad Schily heute noch einmal ein Buch schreiben, müsste es heißen: „Aus Mangel an Mut und Freiheit“. Es hätte wenig mit dem Staat und viel mit der unvornehmen Zurückhaltung des Wirtschaft zu tun. Die Universität Witten/Herdecke mag heute wissenschaftlich als Ort erstklassiger akademischer Bildung etabliert sein, doch leidet sie bis heute an notorischer Geldknappheit.
Schily spricht darüber nicht. Aber die Geschichte seiner Universität ist die Geschichte der Zurückhaltung der Wirtschaft. Alfred Herrhausen zum Beispiel, damals Chef der Deutschen Bank, vereinbarte mit Schily: „Holen Sie mir die Anerkennung, ich bringe ihnen eine Million“, doch scheiterte er an diesem Betrag beinahe. Oder Lothar Späth, der mit Schily die Uni Witten ins reiche Baden-Württemberg verlegen wollte. Selbst der wirtschaftsnahe Ministerpräsident, der einen Kreis von Edelsponsoren zusammenbringt, konnte das Geld der Industrie nicht lockermachen. Es muss wie ein Trauma sein für Konrad Schily, der selbst aus einer Unternehmerfamilie stammt und mit einer Industriellentochter verheiratet war. Die Wirtschaft hat seine Universität stets gefördert, aber sie hat dieses Projekt nie wirklich zu ihrem eigenen gemacht. „Kein Geld gab’s schon immer“, sagt Schily dazu lakonisch. Und: „Die allgemeine Auffassung in dieser Republik ist doch: Eigentlich muss es der Staat richten.“
So muss sich Konrad Schily, den so viele als Antreiber, als Möglichmacher, als Inspirierten preisen, letztlich doch fühlen wie der K. aus Franz Kafkas Romanen. Im anregenden Gespräch mit allen, aber enttäuscht von unsichtbarer Hand. Was will so einer im Bundestag? Mit Reden den großkoalitionär verriegelten Raum aufbrechen? Auf höchster Ebene für Witten/Herdecke antichambrieren? Wieder ein Projekt anstoßen? „Ich will noch mal ins Grundsätzliche“, sagt K.