: Der Körper ist, was getanzt werden kann
Stichwort Gemeinschaft statt Rassismus, Können statt Putschen: starker Tanzauftakt zum Brasilienfestival im HAU Hebbel am Ufer – auch mit Wurzelbohrungen am Machismo der HipHop-Battle-Ästhetik
VON Astrid Kaminski
Soft stellt man sich den Favela-Alltag in Rio de Janeiro nicht gerade vor. Erst recht nicht nach der knallharten Reportagefotografie von Severino Silva, die den Dresdner Auftakt des Festivals „Projeto Brasil“, das an fünf deutschen Performing-Arts-Häusern stattfindet, mit Scharfschützen gesäumt hatte.
Nun ist das Festival im Hebbel am Ufer angekommen und bekräftigt dort zuerst mal ein Klischee: dass Brasilianer*innen tanzen können. Dass ein rauer Alltag aber auch für aggressive Stücke stehen muss – diese Erwartung erfüllt weder Lia Rodrigues in ihrer Eröffnungsperformance „For the Sky Not to Fall“ noch Alice Ripoll mit „Suave/Soft“. Beide arbeiten mit ihren Ensembles in den Favelas Rio de Janeiros, tanken dort die Energie der überlebensnotwendigen Alltagskreativität und setzen sie auf sehr unterschiedliche Art katalysiert wieder frei.
Lia Rodrigues ist keine Unbekannte in Deutschland. Sie ist in etwa die Sasha Waltz Brasiliens, allerdings ist sie, statt wie ihre deutsche Kollegin ins Opernfach abzubiegen, der zeitgenössischen Szene mit all ihren Brüchen und Aufbrüchen verpflichtet geblieben. In einer der größten Favelas, der Maré, hat sie ihr Studio und ihre Tanzschule. „For the Sky Not to Fall“, das dort entstand, ist in erster Linie ein Riechstück: Der Geruch von Kaffee, Mehl, Kurkuma, womit die Tänzer*innen ihre nackten Körper einreiben und in geblasene Staubwolken hüllen, reizt die Nebenhöhlen, betört, durchzieht Poren und Kleider. Im heißen, dichten Dunst drängt sich die Atmosphäre von frühindustriellen Kolonialwarenfabriken auf: Luftfeuchtigkeit, harte Arbeit, Schweiß, durchzogen von dominanten Gewürzessenzen.
Gedämpfter, aber ebenso sinnlich präsent ist die Farbe: Braun-Schwarz-Töne, Weiß, Ocker. Es sieht nicht nur danach aus, sondern es wird auch von Lia Rodrigues bestätigt: Hautfarben spielen eine Rolle. Rassismus sei, so mehrere Künstler*innenstimmen, ein Bestandteil der brasilianischen Gesellschaft, mit dem man sich bis vor wenigen Jahren abfand. Jetzt werde er radikal diskutiert. Die momentane politische Lage in Brasilien, wo kurz vor Festivalstart die gewählte Präsidentin suspendiert wurde und 24 weiße Männer die Ministerialposten an sich nahmen, bietet dazu erst recht Anlass.
Der Hautfarbenmalkasten von Rodrigues ist aber nicht nur aktivistisches Statement, sondern auch ritualistisches Zubehör einer Frage nach Transformationspraktiken. Grundlage dafür bildet unter anderem die Erzählung „Mein Onkel der Jaguar“ des brasilianischen Autors Guimarães Rosa, die Bewusstseinsveränderungen als Kulturwissen der indigenen Bevölkerung thematisiert. Auf der Bühne deutet sich eine Ahnung von diesem gleitenden Bewusstsein durch die intensiven Blickkontakte an, zu denen das Publikum im aufgehobenen Zuschauer-Bühnenraum durch die Tänzer*innen herausgefordert wird. Im anhaltenden Blick verliert das Gegenüber seine Konturen. In dem entstehenden Sog heben sich Nacktheit und Bekleidetheit auf. Schließlich entlädt sich in der intensiven Atmosphäre der Tanz wie der Dampf im Schnellkochtopf: Köpfe schlagen nach vorne, Füße scheren nach hinten aus, Rümpfe kippen in die Horizontale, fangen sich wieder, stampfen sich in mit- und gegenläufigen Uhrzeigerformationen aus der Zeit.
Weniger archaisierend, aber genauso sogartig (wenn auch mit etwas simplizistischen Bühnenmitteln) geht es bei Alice Ripoll zu. Ihr gelingt in dem Erfolgsstück „Suave“ nicht weniger als Wurzelbohrungen am Machismo der HipHop-Battle-Ästhetik. Zwar nennt sich das, was getanzt wird, Passinho (ein rasend schneller ausgestellter Kreuzschritt mit verlängertem Samba-Bounce, der außerdem Elemente aus Breakdance und Locking sowie Folkloreeinflüssen aus Frevo und Pagode vereint); der Rahmen ist aber klar am Battle-Modell festgemacht. Noch viel konsequenter als im queeren Voguing lässt Ripoll nun ihre jungen Tänzer*innen, die ihre Moves allesamt auf Favela-Partys lernten, das umdeuten, was hinter dem Wettbewerb steht: Selbstbehauptung und Anerkennung.
In Freestyle-Konfigurationen wird genauso getobt, gebalgt, gekitzelt, geflirtet wie immer wieder virtuose Tanzlust entfacht. Leitprinzipien sind Gemeinschaft, Sinnlichkeit und Fantasie, während Dominanzposen und Machismo zu ironischen Kommentaren mutieren. Das Prinzip gipfelt, als ein langbeiniger blonder Braids-Rapunzel seine Mähne feuerwerkartig zu Beyoncé durch die Luft wirft, technisch perfekt gedoubelt von einem Tänzer mit äußerlich eindeutigerer Geschlechtszugehörigkeit. Der Körper ist alles, was getanzt werden kann.
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